Vorgeschichte
Die Stadt Erfurt wurde erstmals 742 urkundlich erwähnt und bereits im 8./9. Jahrhundert sollen sich dort jüdische Kaufläute aufgehalten haben. Die erste schriftliche Belegung stammt aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit stellte Erzbischof Konrad I. von Mainz den „Erfurter Judeneid“ aus. Hierbei handelt es sich um das älteste nachweisbare und in deutscher Sprache abgefasste Rechtsdokument dieser Art.
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts kam es in Erfurt zu ersten schwerwiegenden judenfeindlichen Ausschreitungen, bei denen 26 Juden erschlagen wurden. In den folgenden Jahrzehnten kam es zudem immer wieder zu Plünderungen der Synagoge und von „Judenhäusern“. Bis zum Pestjahr 1349 besaß die Gemeinde in Erfurt eine eigene Synagoge sowie einen Friedhof am Moritztor. Im Rahmen von Pogromen am 21. März 1349 stürmten christliche Erfurter das jüdische Viertel in der Stadt, deren Bewohner:innen sie vorwarfen, Brunnen vergiftet zu haben. Über 100 Mitglieder der Gemeinde verloren bei dem Pogrom ihr Leben: Viele starben während des Massakers in der Synagoge, andere sollen ihre Häuser angezündet und Selbstmord begangen haben. Zahlreiche andere verließen daraufhin die Stadt.
Nur wenige Jahre später siedelten sich erneut Juden in Erfurt an. Durch die zahlreichen Zuwanderungen jüdischer Familien aus Böhmen, Mähren und Schlesien bildete sich die zweite Gemeinde heraus. Die neue Gemeinde umfasste um die 350 Mitglieder, die nach der Bezahlung einer hohen Geldsumme an den Kaiser unter dessen Schutz stand. Aufgrund ihrer Rabbiner, ihres Wohlstandes und ihrer Größe zählte die jüdische Gemeinde Erfurts zu den damals bedeutendsten im ganzen Reich. 1357 wurde eine Synagoge erbaut, des Weiteren waren ein Tanzhaus, eine Mikwe, ein Backhaus sowie mehrere Fleischbänke in jüdischem Besitz.
Doch Mitte des 15. Jahrhunderts verschlechterte sich die Situation für die Juden in Erfurt erneut und der Druck auf die jüdische Bevölkerung nahm zu. Hohe Steuersätze und wirtschaftliche Krisen zwangen viele, in andere Teile des Reiches zu gehen. 1458 kaufte der Rat der Stadt Erfurt beim Mainzer Erzbischof das Recht, keine Juden mehr in ihrer Stadt dulden zu müssen.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhundert kann von der „judenlosen“ Zeit in Erfurt gesprochen werden. Erst allmählich kam es wieder zu einer kleinen Ansiedlung von Juden. Der erste jüdische Bewohner der Stadt mit Bürgerrecht war David Salomon Unger, welcher sich 1806 als Antiquitäten- und Juwelenhändler in Erfurt niederließ. Eine neue Gemeinde wuchs ab 1853. Auch eine jüdische Religionsschule entstand in der Stadt. Jüdische Geschäftsleute trugen stark zum wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt bei. 1884 ließ die jüdische Gemeinde die Große Synagoge am Kartäuserring (heutiger Juri-Gagarin-Ring)errichten.
Die Große Synagoge am Kartäuserring (heutiger Juri-Gagarin-Ring) in Erfurt, vor 1938. (Stadtarchiv Erfurt)
Der Innenraum der Großen Synagoge in Erfurt, undatiert. Bis 1938 war die Synagoge der Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde in Erfurt. Bis zu 500 Personen fanden in ihr Platz. Sie besaß eine Orgel, farbige Malereien und war aufwändig ausgeschmückt. (Stadtarchiv/Stadtverwaltung Erfurt)
Nach Ende des Ersten Weltkrieges nahm antisemitische Hetze auch in Erfurt zu. 1924 wurde die Synagoge das erste Mal mit NS-Parolen beschmiert, und zwei Jahre später wurde der jüdische Friedhof geschändet.
Die Hetze gegen die Gemeinde verstärkte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Viele Jüdinnen und Juden verließen Erfurt deshalb; die meisten ins Ausland. Zählte Erfurt 1932 mehr als 1200 Gemeindemitglieder, sank diese Zahl bis Ende 1933 auf ca. 830 Personen. In den folgenden Jahren verließen weitere 250 Jüdinnen und Juden die Stadt. Die Mehrheit von ihnen wanderte in die USA, nach Palästina, nach, Südamerika oder nach Australien aus.
Vier Jahre später, 1937, befanden sich trotz der Verfolgung und dem Druck jedoch noch immer 39 Bekleidungswaren-, 13 Lederwaren- und Schuhgeschäfte, zwei Kaufhäuser, zwei Samen- und Gärtnereihandlungen, 20 Textilwarenhandlungen, zehn Viehhandlungen sowie 21 sonstige Geschäfte in jüdischem Besitz. Des Weiteren praktizierten 13 jüdische Ärzte und sechs Rechtsanwälte in der Stadt. Doch immer mehr Juden wurden gezwungen, ihre Geschäfte abzugeben bzw. ihre Tätigkeit aufzugeben. Ende Oktober 1938 wurden zudem um die 100 Jüdinnen und Juden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, im Rahmen der „Polenaktion“ nach Polen abgeschoben.
Ein bekanntes Beispiel für das Herausdrängen der Juden aus der Wirtschaft ist die Geschichte des Kaufhauses „Römischer Kaiser“ (heute Anger 1), welches 1908 fertiggestellt wurde. Zahlreiche jüdische Geschäfte waren hier vertreten. Doch bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten veranstalteten diese immer wieder Boykottmaßnahmen gegen das Kaufhaus; zudem stand es unter permanenter Beobachtung durch die Gestapo. Ende 1937 wurden die jüdischen Eigentümer durch die Nationalsozialisten zwangsenteignet und das Kaufhaus damit „arisiert“.
Postkarte des Kaufhauses „Römischer Kaiser“ (heutiger Anger 1), 1920er Jahre. (Wikipedia)
Die Ereignisse im November 1938
Kurz vor Mitternacht erhielt das Regierungspräsidium in Erfurt am 9. November 1938 Instruktionen, jüdische Einwohner:innen der Stadt durch die SA und SS festnehmen sowie die Synagoge in Brand setzen zu lassen. Feuerwehr, Polizei, SA und SS wurden entsprechend instruiert.
Angehörige von SA und SS, aber auch Zivillisten, von denen einige angetrunken waren, holten daraufhin männliche Juden zwischen 18 und 80 Jahren gewaltsam aus ihren Häusern und Wohnungen und brachten sie zur Turnhalle der Oberrealschule Humboldtschule in der Meyfahrtsstraße, die als Sammelpunkt diente. Vielen Festgenommenen wurde es nicht gestattet, sich etwas Ordentliches anzuziehen: Sie mussten das Haus in Schlafanzug und Hausschuhen verlassen, angetrieben von Schlägen und antisemitischem Geschrei.
Augenzeugen berichteten, dass Juden mit Gummiknüppeln durch die Straßen zur Oberrealschule getrieben wurden. Ein anderer beobachtete, wie ein SS-Mann mit einem großen Hund festgenommene Juden abführte. In einigen Fällen verliefen die Festnahmen auch etwas „dezenter“: Der jüdische Rechtsanwalt Karl Heilbrunn etwa berichtete später:
„In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde ich etwa gegen zwei Uhr nachts von meiner weinenden Haushälterin geweckt, die mir mitteilte, es seien zwei SA-Männer gekommen. Die erklärten mir, ich müsse sofort zu einer Besprechung mit ihnen kommen. Sie gaben mir Zeit, mich anzuziehen. Auf der Straße vor meinem Haus, Brühler Hohlweg 18, stand ein Auto, auf dessen Führersitz ein gut angezogener Mann saß, und ich wurde von diesen drei Personen nach der Oberrealschule gefahren […].“
(Erfurter Straßenzeitung Brücke im Verein Kontakt in Krisen. Redaktion: Birgit Vogt, Pogrom in Erfurt. Beiträge gegen das Vergessen, Erfurt 1998, S. 9.)
Bis ungefähr halb 6 Uhr morgens stieg die Zahl der Verhafteten auf ungefähr 180 an. Die Erfassung der jüdischen Gefangenen war bereits im Voraus von der Kriminalpolizei vorbereitet worden: Den Befehl zur Einrichtung eines Büros in der Turnhalle gab der stellvertretende Polizeipräsident Max Wendland an den Kriminalkommissar Hanns Boskamp weiter. Diese und weitere höhere Nazi-Funktionäre, darunter NSDAP-Kreisleiter Franz Theine, überwachten den Verlauf des Geschehens aufs genauste. Dabei wurden die Juden auch in der Turnhalle misshandelt, gedemütigt und verprügelt.
Der jüdische Kaufmann Max Cars (geb. 1894) berichtete später:
„Jeder, der hereinkam, wurde mit Stöcken, Reitpeitschen, Ochsenziemern, sogar mit eisernen Hanteln derart geschlagen, bis sie teilweise ohnmächtig zusammenbrachen. “.
(Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und das Netzwerk "Jüdisches Leben in Erfurt", Novemberpogrom 1938 in Erfurt. aus Dokumenten und Erinnerungen, Jena 2014, S. 12)
Stundenlang mussten die Männer mit gebeugten Knien, den Händen nach vorne und dem Gesicht zur Wand stehend ausharren. Wer diese Position nicht mehr halten konnte und umfiel, wurde mit einem Strick geschlagen. Ältere und geschwächte Personen wurden gezwungen, Kletterstangen und -gerüste erklimmen, wozu viele körperlich nicht (mehr) in der Lage waren. Auch dann gab es brutale Schläge. Die Folgen waren oftmals schwere Verletzungen. Die Täter hatten die gewalttätigen Übergriffe von Beginn an eingeplant, denn sie hatten einen kleinen Raum bei der Turnhalle für den Sanitätsdienst einrichten lassen. Die dort tätigen Personen stellten jedoch fehlerhafte oder zu milde Diagnosen und schickten Verletzte schnell wieder weg.
Über die Situation in der Turnhalle berichtete Karl Heilbrunn später:
„Der Lärm in der Halle war fürchterlich. Das Schreien und Toben dauerte stundenlang. Es war die Hölle. Ich habe niemals in meinem Leben etwas so Entsetzliches durchgemacht.“
(Aus der Geschichte der Juden in Erfurt, 1978)
Am Morgen des 10. November mussten alle jüdischen Männer zum Horst-Wessel-Lied, der Parteihymne der NSDAP, marschieren und auf Befehl „Juda verrecke!“ schreien. Anschließend wurden von den 180 Juden circa 170 Personen in das KZ Buchenwald verschleppt. Die für den Transport unfähig erklärten Personen mussten medizinisch versorgt, teils in Krankenhäuser gebracht werden. Bereits am Nachmittag des gleichen Tages wurden einige wieder freigelassen.
Von der Verwaltung des KZ Buchenwald erstellte Liste, der am 10. November 1938 in Erfurt in Haft genommenen jüdischen Männer, 10. November 1938. (Arolsen Archives)
Die Erfurter Synagoge am Karthäuserring wurde in der Pogromnacht zerstört. Um Mitternacht versammelten sich zahlreiche SA-Angehörige am Gebäude und umstellten dieses. Zahlreiche Randalierer drangen in die Synagoge ein und zerstörten die wertvolle Einrichtung. Zuvor hatte man 60 Liter Benzin besorgt, welches zur Entzündung der Synagoge verwendet wurde. Die Synagoge brannte lichterloh und schien die Nacht zum Tage gemacht zu haben. Die Nachbarhäuser wackelten, als die Goldkuppel abstürzte, berichtete ein Augenzeuge. Währenddessen stand die SA neben dem brennenden Gebäude und jubelte. Die Feuerwehr sah tatenlos zu. Aus der 2001 vorgelegten Chronik der Erfurter Feuerwehr wird folgendes wiedergegeben:
„Die Feuerlöschpolizei wurde alarmiert, bevor es brannte. Die Feuerwehrleute wurden zusammengerufen und ihnen mitgeteilt, daß in einigen Minuten die Synagoge in Flammen aufgehen wird. Bei Ankunft brannte die Synagoge bereits in voller Ausdehnung. Die SS versuchte mit Gewalt, den Einsatz der Feuerwehr zu verhindern und die Schläuche durchzuschneiden.“
(Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und das Netzwerk "Jüdisches Leben in Erfurt", Novemberpogrom 1938 in Erfurt. aus Dokumenten und Erinnerungen, Jena 2014, S. 22.)
Die Aufgabe der Feuerwehr war es lediglich, die angrenzenden Gebäude vor den Flammen zu schützen, damit diese keine Schäden davontrugen. Am Morgen standen nur noch die Grundmauern der Synagoge.
Die Große Synagoge nach dem Brand in der Nacht auf den 10. November 1938. Auf der Straße vor dem Gebäude stehen Schaulustige. (Stadtarchiv Erfurt)
Abgebrannter Innenraum der Synagoge, November 1938. Der Innenraum der Großen Synagoge war völlig zerstört. In Mitten der Trümmer ist nur noch ein Davidstern zu sehen. Dahinter steht ein Feuerwehrmann. (Stadtarchiv Erfurt)
Viele Juden, die in der Nacht in die Turnhalle der Oberrealschule gebracht wurden, mussten auf dem Weg dahin als Demütigung an der brennenden Synagoge vorbeifahren. Darunter war zum Beispiel Dr. Harry Stern. Er berichtete später, dass er beim Vorbeifahren einen SS-Mann habe sagen hören: „Das mag Ihr letzter Eindruck im Leben sein!“.
Die Thorarollen der Synagoge konnten rechtzeitig gerettet werden. Sicher ist, dass sie bis 1945 vom Domprobst Dr. Freusberg sicher verwahrt wurden. Möglicherweise waren sie ihm von Dina Schüftan übergeben worden. Sie war die Witwe des 1936 verstorbenen Rabbiners. 1943 ermordete die SS sie im KZ Auschwitz.
Nach Ende der Pogromnacht mussten Mitglieder der Gemeinde die blutgetränkte Turnhalle reinigen, teils mit ihren eigenen Sachen. Des Weiteren musste die Gemeinde für die Beseitigung des Schuttes der Synagoge aufkommen und die zwei Benzinfässer, die zum Anbrennen des Gebäudes benutzt worden waren, bezahlen.
Auch der jüdische Friedhof in der Cyriakstraße 3a sowie der Begräbnisplatz an der Schützenhausstraße 2 (heute Werner-Seelenbinder-Straße 3) blieben nicht unverschont: SA-Schlägertrupps suchten die Ruhestätten der Toten in der Nacht auf und verwüsteten diese. Ebenfalls wurde die Friedhofshalle des jüdischen Friedhofs neben der Thüringenhalle vollkommen zerstört.
Jüdischer Friedhof an der Cyriakstraße, 1944. (Stadtarchiv Erfurt)
Zudem wurden bei einigen Läden jüdischer Eigentümer:innen die Fenster eingeworfen, andere wurden geschlossen. Zu den betroffenen Geschäften zählten unter anderem: K. D. P. Tausk (Textil- und Modewaren), Dufthütte Astra (Parfümeriegeschäft), Etam (Strumpf- und Wäschegeschäft), Clausen & Sommerfeld (Damenmantelgeschäft) sowie Schuhhaus Horn (Schuhgeschäft). Größere Zerstörung blieb aus, da bereits in den vorherigen Jahren ein Großteil der jüdischen Geschäfte enteignet worden war.
Folgen
Vier der etwa 170 in das KZ Buchenwald verschleppten Erfurter Juden starben dort: Hugo Adler (Kaufmann), Josef Gassenheimer (Kaufmann), Felix Meyer Levi (Privatmann), Siegfried Charig (Privatmann) und Hermann Nussbaum (Kaufmann). Die meisten anderen Erfurter Juden wurden bis zum Ende des Jahres wieder aus dem KZ Buchenwald entlassen, mussten aber zusichern, sich um die Ausreise zu bemühen.
Für die nach dem Pogrom in Erfurt lebenden jüdischen Bürger:innen folgten weitere drastische Einschränkungen und Demütigungen. Am 13. November 1938 verfügte der Oberbürgermeister von Erfurt:
„Die Maßnahmen gegen die Juden in Erfurt
Der Oberbürgermeister teilt mit:
Im Anschluss an die Verordnung, die der Beauftragte für den Vierjahresplan, Generalfeldmarschall Göring, am 12. November 1938 als Abrechnung mit den jüdischen Verbrechern gegeben hat, und zugleich im Anschluss an die Anordnung des Reichsministers Dr. Goebbels in seiner Eigenschaft als Präsident der Reichskulturkammer erlasse ich folgende Verfügung.
1. Ich untersage den Leitern sämtlicher städtischen Kultureinrichtungen, wie Theater, Museen, Ausstellungen, Büchereien, Archiven, sonstige Einrichtungen für Erwachsenen-Erziehung usw., jüdischen Personen den Besuch zu gestatten.
2. Ich untersage den Leitern sämtlicher städtischen Höheren, Mittel-, Volks-, Fach- und Berufsschulen, jüdischen Personen das Betreten der zugehörigen Gebäude zu gestatten und sie an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehmen zu lassen.
3. Ich untersage allen Leitern und Verwaltern von städtischen Einrichtungen, die zur körperlichen Ertüchtigung dienen, wie Turnhallen, Sportplätzen, Badeanstalten und dergleichen jüdischen Personen das Betreten der Einrichtungen zu gestatten.
4. Ich untersage sämtlichen städtischen Lehrern und Beamten und Angestellten, an Juden irgendwelchen Unterricht in körperlicher, charakterlichen und geistigen Richtung zu geben.
Meine Verfügungen sind als örtlich und vorläufig zu betrachten und sind außer Kraft gesetzt, sobald eine gesetzliche Regelung oder ministerielle Verfügung ergeht. Die Verfügungen treten sofort in Kraft“
(Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und das Netzwerk "Jüdisches Leben in Erfurt", Novemberpogrom 1938 in Erfurt. aus Dokumenten und Erinnerungen, Jena 2014, S. 43.)
Durch eine Anordnung von Herman Göring vom 28. Dezember 1938 entstanden sog. „Judenhäuser“ in Erfurt, in die die jüdischen Bürger:innen ziehen mussten. Diese befanden sich in Große Arche 17, Regierungsstraße 19, Karthäuserstraße 69, Michaelisstraße 44, Johannesstraße 98/99 und Herderstraße 24a.
Elf Männern aus Erfurt ist es nach ihrer Entlassung aus dem KZ Buchenwald gelungen, mit ihren Familien zu emigrieren. Zu diesen zählten: Alfred Stein (Lettland), Jakob Arkusch (Lettland), Erich Markowitz (Nordamerika), Max Nomburg (Uruguay), Jacob Nussbaum (Frankreich), Julius Isaak Baumgarten (USA), Heinrich Cerf (Uruguay, später Chile), Levi Hartmann (Holland), Franz Kann (England), Josef Krimke (Holland) und Josef Heilbronner (Palästina). Bis zum Kriegsbeginn im September 1939 konnten weitere Familien nach China, Südamerika oder Südafrika auswandern. Aufgrund enorm hoher Kosten und langer Wartelisten in den Konsulaten wurde es mit Kriegsbeginn jedoch immer schwieriger, an Einreisegenehmigungen für andere Länder zu gelangen. 1941 wurde eine Ausreise ganz verboten.
Die in Erfurt verbliebenen Juden wurden ab Frühjahr 1942 in Lager und Ghettos deportiert. Der erste Transport fand am 10. Mai 1942 statt. Dabei wurden 100 jüdische Männer, Frauen und Kinder (acht Kinder waren unter 14, das jüngste war Günter Beer mit 4 Jahren) in das Ghetto Bełżyce im besetzten Polen gebracht. Vermutlich hat keiner der Deportierten überlebt. 41 weitere jüdische Frauen und Männer, alle über 60 Jahre alt, wurden am 20. September 1942 über Weimar und Leipzig nach Theresienstadt transportiert. Auch von ihnen starben die meisten. Ein dritter Transport erfolgte am 2. März 1943 in das KZ Auschwitz. Nun befanden sich nur noch Juden oder Jüdinnen in Erfurt, die mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet waren oder ein nichtjüdisches Elternteil hatten (sog. „Halbjuden“). Doch bald waren auch sie von Zwangsarbeit und Deportationen betroffen. Am 12. Januar 1944 erfolgte ein Transport mit 24 Personen nach Theresienstadt; darunter befanden sich fünf von ihren nichtjüdischen Partner:innen geschiedene oder verwitwete Jüdinnen und Juden. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges fand der letzte Transport von 18 Erfurter „Halbjuden“ nach Theresienstadt statt. Alle von ihnen erlebten die Befreiung.
Auch jüdische Familien, die vor Kriegsbeginn in die Niederlande oder nach Belgien geflüchtet waren, konnten einer Deportation oftmals nicht entkommen. Nach der deutschen Besetzung wurden auch sie in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten Europas deportiert und ermordet. Dazu zählten etwa Selmar Brauner, der nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald 1939 mit seiner Frau Hulda nach Belgien emigriert war. Nach der deutschen Besatzung wurden beide im Lager Mechelen in Belgien inhaftiert und von dort aus Ende Juli 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ähnlich war das Schicksal von Levi und Mathilde Hartmann. Die beiden waren noch Ende 1938 nach Levi Hartmanns Entlassung aus Buchenwald in die Niederlande emigriert. Von dort aus deportierte sie die Gestapo im März 1943 über das Lager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor. Beide wurden dort unmittelbar nach der Ankunft am 13. März 1943 von der SS ermordet.
Die Häuser und Wohnungen der Erfurter Deportierten fielen gemäß der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 an das Deutsche Reich. Sie wurden nichtjüdischen Deutschen zugesprochen.
Biografien
Hugo Adler
Hugo Adler wurde am 21. November 1897 in Osterode am Harz als Sohn des Kaufmannes Levin und Ida (geb. Schloß) Adler geboren. 1919 zog er nach Erfurt. Adler war Kaufmann und Textilvertreter; am 23. August 1937 ist er im Verzeichnis der jüdischen Firmen aufgelistet. Im folgenden Jahr wurde ein Verbot der Berufsausübung ausgestellt, wirksam war dies ab dem 30. September 1938. Seine letzte Adresse in Erfurt war die Johannesstraße 98.
In der Pogromnacht wurde Hugo Adler in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 verhaftet und in die Turnhalle der Humboldtschule gebracht. Anschließend verschleppte ihn die Polizei, wie auch die meisten anderen Verhafteten, nach Buchenwald. Er trug die Häftlingsnummer 20435. Nach knapp drei Wochen Haft starb er dort am 30. November 1938 im Alter von erst 41 Jahren. Als Todesursache gab die SS chronische Nierenentzündung und Harnvergiftung an.
Meldung aus dem KZ Buchenwald über den Tod von Hugo Adler, 30. November 1938. (Arolsen Archives)
Hermann Nußbaum
Hermann Nußbaum wurde am 22. Oktober 1864 in Erfurt als Sohn des Kaufmannes Moses und Therese (geb. Seelig) Nußbaum geboren. Er hatte einen Bruder, Ferdinand Nußbaum. Verheiratet war er mit Margarethe Nußbaum (geb. Goldstein). Das Ehepaar hatte drei Kinder. Den Söhnen Max und Ernst Nußbaum gelang es, im März 1939 nach Sao Paulo auszuwandern. Das dritte Kind, Else, verstarb bereits wenige Monate nach der Geburt.
Hermann war Kaufmann und Kommis (veraltete Bezeichnung für einen Kontoristen) sowie Mitinhaber des Geschäftes Gebrüder Nußbaum, Mode- und Schnittwarenhandlung B. Buchardt. Des Weiteren vermittelte er bis zum Verbot der Berufsausübung jüdischer Grundstücksvermittler im Juli 1938 Grundstücke in Erfurt.
Auch Hermann Nußbaum wurde in der Nacht auf den 10. November 1938 verhaftet und am nachfolgenden Tag ins KZ Buchenwald gebracht. Dort gab ihm die SS die Häftlingsnummer 30530. Nach nur zehn Tagen Haft starb er am 21. November 1938. Als Todesursache gab die SS doppelseitige Lungenentzündung an.
Meldung des KZ Buchenwald über den Tod von Herman Nußbaum, 21. November 1938. (Arolsen Archives)
Im Jahr 1939 wurde das Geschäft der Familie Nußbaum in der Marktstraße 48/49 durch die Nationalsozialisten „arisiert“. Hermann Nußbaums Frau Margarethe zog nach den Pogromen und der Emigration ihrer beiden Söhne nach Berlin. 1942 deportierte sie die Gestapo in das besetzte Polen. Dort verliert sich ihre Spur.
Justizielle Ahndung
Die meisten der an den Verbrechen während der Pogromnacht beteiligten Personen wurden vermutlich nicht strafrechtlich verfolgt. Eine Ausnahme bildete Georg Beuchel, gegen den mehrere Ermittlungsverfahren geführt wurden.
Beuchel war seit dem 1. Oktober 1933 Firmenchef der Opel-Automobil-Verkaufs Georg Beuchel K.-G., welche mehrere Niederlassungen besaß. Noch im selben Jahr trat er dem NSKK (Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps) bei und wurde ab dem 10. Dezember 1936 mit der Mitgliedsnummer 613.516 Mitglied der SS. 1939 wurde er in die NSDAP aufgenommen. Beuchel pflegte enge Beziehungen zum NSDAP-Kreisleiter Franz Theine.
Während des Zweiten Weltkrieges betrieb Beuchels Unternehmen drei Kriegswerkstätten in den besetzten Gebieten (in Poltawa, St. Etiene und St. Omer), bei denen unter anderem auch Zwangsarbeiter:innen beschäftigt wurden.
Ab Mai 1945, also noch zur Zeit der amerikanischen Besatzung, ermittelte die Erfurter Kriminalpolizei unter dem Aktenzeichen 650 Hi/Kl. gegen Georg Beuchel und führte Voruntersuchungen durch. Ihm wurde vorgeworfen, an der Brandstiftung der Synagoge in der Pogromnacht 1938 beteiligt gewesen zu sein.
Im Juli 1946 erstattete der Vorstand der Erfurter Synagogengemeinde gegen den mutmaßlichen Brandstifter Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Erfurt. In der Anzeige heißt es:
„Beuchel ist, wie die beigefügten Unterlagen ergeben, dringend verdächtig, sich an der Brandstiftung betr. die Synagoge in Erfurt in der Nacht vom 9. zum 10.11.1938 beteiligt zu haben. Er war langjähriges Mitglied der NSDAP und Obertruppführer im NSKK. Ferner war er Mitglied des Wirtschaftsbeirates in der Kreisleitung der NSDAP und ein guter Freund des damaligen Kreisleiters Theine. Seine Ehefrau soll der NS-Frauenschaft angehört haben. Er ist aus diesen Gründen als aktiver Nationalsozialist anzusehen. Aus dieser Gesinnung heraus ist ihm die zur Last gelegte Tat auch zuzutrauen. Beuchel unterhielt außerdem während des Krieges sowohl in Ostgebieten wie auch in Frankreich Kriegswerkstätten. Er war daher Nutznießer des Nazisystems. Schließlich weisen wir noch drauf hin, dass Beuchel zahlreiche Fremdarbeiter beschäftigt hatte, die von ihm schlecht behandelt worden sind.“
(Schreiben der Erfurter Synagogengemeinde an die Staatsanwaltschaft Erfurt, 18.7.1946, zit. nach: Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt e.V., Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Erfurt 2021, S. 259.)
Ihrer Anzeige legte die Synagogengemeinde sieben Anlagen bei, unter anderem auch umfassende Zeugenaussagen, die Beuchel stark belasteten. Aus einer Aussage vom 17. September 1945 geht folgendes hervor:
„Aus der Schilderung des Herrn D. war ohne weiteres zu entnehmen, dass das Benzin für die Anzündung der Synagoge bestimmt und dass die Herren in der Synagoge und an der Brandstiftung beteiligt waren. Außerdem erzählte Herr W. an demselben Morgen in der Verkäuferbesprechungen seiner lebhaften Art, wie sich alles abgewickelt hat: ‚Das Benzin wurde in Kanister gefüllt und mitgenommen. Herr Beuchel, Herr D. und er fuhren im Wagen zur Synagoge. Dort war schon ein Trupp NSKK oder SA Leute, darunter auch Herr S. von der Firma Opel. Tor und Tür wurden aufgebrochen. Im Innern wurde Benzin über Bänke usw. geschüttet und angezündet. Türen und Schränke wurden aufgerissen, Bücher herumgeworfen usw.‘ Aus der Schilderung des Herrn W. über die Vorgänge in der Synagoge ging unzweifelhaft hervor, daß Herr Beuchel sowie die anderen Herren in der Synagoge gewesen sind und sich an der Anzündung und Zerstörung aktiv beteiligt haben. W. sagte zum Beispiel: Ihr hättet mal sehen sollen, wie der Schorsch (Georg Beuchel) in dem Judentempel herumhüpfte.“
(Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt e.V., Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Erfurt 2021, S. 242 f.)
Beuchel selbst argumentierte in einer Stellungnahme, dass er nicht gewusst habe, wofür das von ihm bereitgestellte Benzin dienen sollte. Des Weiteren zählte er auf, dass er den Kommunisten Dr. Theodor Neubauer nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald in einem seiner Betriebe in Gotha angestellt und dessen Familie unterstützt habe.
Am 4. Juli 1947 wurden die Voruntersuchungen abgeschlossen; zu einem Prozess gegen Georg Beuchel kam es jedoch nicht. Im Protokoll der 99. Sitzung der Entnazifizierungskommission für den Stadtkreis Erfurt wurde am 10. März 1948 folgendes notiert:
„Es liegt der Verdacht vor, dass Beuchel Beihilfe zum Synagogenbrand geleistet hat. […] Beschluss: Die E.K. fasste im Falle Beuchel keinen Beschluss, da derselbe flüchtig ist und die Angelegenheit der Untersuchungsbehörde zur Überprüfung weitergereicht werden muss.“
(Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt e.V., Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Erfurt 2021, S. 270.)
Zwei Monate später wurde das Verfahren gegen Beuchel eingestellt, u. a., weil er als flüchtig galt. 1951 gab es erneut Versuche des Volkspolizeipräsidiums Erfurt, die Hauptverhandlung in Abwesenheit Beuchels durchzuführen und einen Haftbefehl zu erlassen. Dazu ist es aber nicht gekommen.
In der Zwischenzeit erhielt Georg Beuchel im Rahmen der westdeutschen Entnazifizierungsverfahren einen Sühnebescheid – er war aus Erfurt nach Bayern geflüchtet –, in dem die Spruchkammer ihn gegen eine Zahlung von 500 Reichsmark als Mitläufer einstufte.
1960 leitete die Staatsanwaltschaft in Hannover ein Verfahren gegen Georg Beuchel, Fritz Theine und weitere 34 Männer aus Erfurt wegen ihrer Beteiligung an dem Synagogenbrand in Erfurt im November 1938 ein. Wegen mangelnder Beweise und Verjährung der Tat wurden das Verfahren jedoch 1963 eingestellt. Damit wurden Georg Beuchel und die anderen Beschuldigten nie für ihre Taten im November 1938 zur Rechenschaft gezogen.
Spuren und Gedenken
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 entstand eine neue jüdische Gemeinde in Erfurt. Ihr erster Vorsitzender war Max Cars, der der Gemeinde bereits vor dem Krieg angehört hatte. Der Gemeindevorstand setzte sich früh für die Rückgabe des Grundstückes, auf dem die Große Synagoge gestanden hatte, ein. Im Sommer 1952 wurde schließlich die Neue Synagoge in Erfurt am Karthäuserring (heute Juri-Gagarin-Ring/Max-Cars-Platz) eingeweiht. Sie wurde mit staatlichen Mitteln erbaut und blieb bis 1989 der einzige Synagogen-Neubau in der DDR. Zum Gedenken an die Hintergründe der Zerstörung der Großen Synagoge befindet sich eine Gedenktafel an dem Gebäude, die folgende Worte trägt:
„An dieser Stätte ist die Synagoge am 9. November 1938 zerstört worden. Am 31.August 1952 - 10. Ellul 5712 - wurde sie auf geheiligter Erde neu erbaut und wieder zur Ehre des ewigen Gottes geweiht.“
Die Neue Synagoge am Juri-Gagarin-Ring in Erfurt, 2023. (Foto: Max Morjan)
Gedenktafel an der neuen Synagoge, 2023. (Foto: Max Morjan)
Das Denkmal Große Synagoge vor der Neuen Synagoge, 2022. Das Tastmodell wurde im Rahmen der Festveranstaltung "70 Jahre Neue Synagoge Erfurt" am 31. August 2022 von der Stadt Erfurt eingeweiht. (Foto: Dirk Urban, Stadtverwaltung Erfurt)
Um an den Sammelpunkt der jüdischen Einwohner:innen in der Humboldtschule zu erinnern, wurde um 1959 dort ebenfalls eine Gedenktafel angebracht. Sie trägt die Inschrift:
„In der Nacht vom 9. Zum 10.November 1938 wurden 200 jüdische Mitbürger Erfurts in den Turnhallen dieser Schule von den Faschisten zusammengetrieben und grausam mißhandelt. Von hier aus begann ihr qualvoller Weg in furchtbares Elend und in den Tod! Nie wieder Faschismus !“
Gedenktafel an der Humboldtschule. (Foto: Max Morjan)
Durch eine virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge und einem online aufrufbaren Web-3D-Modell können sich Personen einen Eindruck von dem von den Nationalsozialisten zerstörten Gebäude und seiner Geschichte verschaffen. Link zum Web-3D-Modell: www.juedisches-leben-thueringen.de/projekte/synagoge-ef-vr/
An den während der Pogrome 1938 geschändeten und 1944 eingeebneten alten jüdischen Friedhof an der Cyriakstraße wird seit 1996 mit einem Marmorgedenkstein erinnert. Zudem wurde die Friedhofshalle, welche während der Pogromnacht völlig zerstört worden war, 1993 wieder in alter Form aufgebaut und das Gelände des ehemaligen Friedhofs zudem Anfang der 2000er Jahre wieder sichtbar gemacht und neugestaltet.
Gedenkstein am ehemaligen alten jüdischen Friedhof in der Cyriakstraße. (Foto: Max Morjan)
Friedhofshalle am Friedhof in der Nähe der Thüringenhalle, 2023. (Foto: Max Morjan)
Um in Erfurt an Orte zu erinnern, die für Verfolgung, Vernichtung oder Vertreibung der Erfurter Juden stehen oder auf Einzelschicksale hinweisen, werden seit 2009 DenkNadeln – in Anlehnung an die in anderen Städten verlegten Stolpersteine –, in der Stadt errichtet. Nach der Platzierung der 5. DenkNadel vor der neuen Synagoge wurde der Platz davor in den „Max-Cars-Platz“ umbenannt, nach dem ersten Vorsitzenden der 1945 neugegründeten jüdischen Gemeinde.
DenkNadel zum Gedenken an Erich Dublon am Anger 46, 2023. (Foto: Max Morjan)
Am Erfurter Hauptbahnhof erinnert seit 1992 eine Tafel auf der Zwischenebene des mittleren Treppenaufgangs von Gleis 3-8 an die Deportationszüge, die von hier aus über Weimar in Ghettos und Konzentrationslager abfuhren.
Gedenktafel am Erfurter Hauptbahnhof zum Gedenken an die Deportationszüge in den Osten, 2023. (Foto: Max Morjan)
Am 17. September 2023 entschied das Welterbekomitee der UNESCO in Riad, Erfurt mit der jüdisch-mittelalterlichen Altstadt mit der Alten Synagoge, der Mikwe und dem „Steinernen Haus“ in die Liste der Weltkulturerbe aufzunehmen.
Exkurs: Firma Topf & Söhne
Die 1878 gegründete und in Erfurt ansässige Firma J.A. Topf & Söhne, ein führendes Unternehmen für Mälzerei-, Speicher- und Feuerungsanlagen. Ab 1939 entwickelte sie spezielle Verbrennungsöfen für die "Euthanasie"-Morde an Menschen mit geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen sowie für die Konzentrations- und Vernichtungslager, darunter das KZ Buchenwald und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auch die Belüftungstechnik der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau wurden durch Mitarbeitende der Firma Topf konstruiert und montiert. Damit machte sich das Erfurter Unternehmen zum wichtigen Partner der SS bei den nationalsozialistischen Massenverbrechen.
Ludwig Topf, der gemeinsam mit seinem Bruder Ernst Wolfgang Topf die Geschäftsführung innehatte, nahm sich kurz nach Ende des Krieges 1945 das Leben. Sein Bruder reiste in Folge dessen in die westlichen Besatzungszonen und wurde nach dem Besatzungswechsel in Thüringen durch die sowjetische Armee an seiner Rückkehr nach Erfurt gehindert. 1951 gründete er in Wiesbaden die Firma Topf neu und baute erneut Krematoriums- und Abfallvernichtungsöfen. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt. Im Erfurter Betrieb wurden 1946 vier leitende Mitarbeiter aufgrund ihrer Mittäterschaft im Holocaust in sowjetische Haft genommen. 1947 wurde die Erfurter Firma verstaatlicht, 1996 ging die 1993 privatisierte Firma in Konkurs.
2001 besetzten Aktivist:innen Teile der Firmenbrache und errichteten dort ein alternatives Kulturzentrum. Wenig später begann die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die wissenschaftliche Aufarbeitung der Firmengeschichte. Die Ergebnisse wurden in der Internationalen Wanderausstellung „Techniker der ‚Endlösung’. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ ab 2005 präsentiert. Seit 2011 wird diese Ausstellung dauerhaft im ehemaligen Firmengelände gezeigt.
Erinnerungsort Topf & Söhne im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma, 2011. (Kastner Pichler Architekten 2011)
(Kopie 1)
Quellen und Literatur
Bauer, Antje; Fleischhauer, Tom: "… nicht im geringsten ahnen konnten, dass das Benzin zu Nichtmotorzwecken gebraucht würde." Die Brandstiftung in der Erfurter Synagoge am 9./10. November 1938 und der Fall Georg Beuchel, in: Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt e.V. (Hg.), Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Erfurt 2021, S. 229-274.
Erfurter Straßenzeitung Brücke im Verein Kontakt in Krisen: Pogrom in Erfurt. Beiträge gegen das Vergessen, Erfurt 1998.
Gibas, Monika: "Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon." Schicksale 1933–1945, Erfurt 2008.
Hoschek, Jutta: Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945. Biographische Dokumentation, Jena 2013.
Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und das Netzwerk "Jüdisches Leben in Erfurt": Novemberpogrom 1938 in Erfurt. Aus Dokumenten und Erinnerungen, Jena 2014.
Schüle, Annegret: Industrie und Holocaust. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz, Göttingen 2017.
Links
Jüdische Geschichte und Gegenwart in Erfurt: https://juedisches-leben.erfurt.de/jl/de/heute/erfurter_gedenken/orte/index.html
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Ortseintrag zu Erfurt: https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/574-erfurt-thueringen
Autor: Max Morjan, Student der Friedrich-Schiller-Universität Jena