Vorgeschichte
In Schmalkalden lebten mindestens seit der Stadtwerdung im 13. Jahrhundert Jüdinnen und Juden. Sie waren immer wieder Ausgrenzungs- und Verfolgungswellen ausgesetzt: 1298 wurden sie bei der „Rintfleisch-Verfolgung“, einem von Röttingen (Lkr. Würzburg) ausgehenden Judenpogrom, verfolgt. 1349 sollen in Schmalkalden 18 Jüdinnen und Juden wegen angeblicher „Brunnenvergiftung“ erschlagen und an einer Stelle begraben worden sein, die seitdem „Judentelle“ heißt.
Aus den Quellen geht hervor, dass zwischen 1570 und 1611 keine Jüdinnen und Juden in der Stadt lebten, bis Landgraf Moritz von Hessen ihre Ansiedlung Anfang des 17. Jahrhunderts genehmigte. Daraufhin stieg die Zahl der jüdischen Familien von vier (1611) auf 21 (1639). Herkunftsorte der angesiedelten Familien waren das nahe Barchfeld, Felsberg, Fulda, Mühlhausen und Prag. Die Jüdinnen und Juden waren keine gleichberechtigten Bürger:innen. Sie mussten hohes Schutzgeld entrichten und sich von allen „Bürgerlichen Handlungen“ enthalten. Das bedeutete unter anderem, dass sie vom Landbesitz und von der Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen waren. Die Stadtgesellschaft verhielt sich zum Teil feindlich gegenüber den angesiedelten Jüdinnen und Juden. Im Jahr 1636 baten Stadtrat und Bürgerschaft den zuständigen Landgrafen Georg II. „wegen der allzu übergroßen Schinderey um Abschaffung der Juden.“ Der Landgraf ging jedoch – vor allem aus finanziellen Gründen – nicht darauf ein.
Die jüdische Gemeinde in Schmalkalden besaß eine Synagoge, eine Schule, zwei Mikwen und einen bzw. später zwei Friedhöfe. Die Synagoge errichtete der in Schmalkalden lebende Isaak Samuel von Felsberg in einem Hof im Winkel der Judengasse im Jahr 1622 in Form eines kleinen, niedrigen Baus. Nachdem sie 1717 einem Brand zum Opfer gefallen war, wurde sie in den Folgejahren wieder aufgebaut. Der älteste Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof stammt aus dem Jahr 1629. 1895 erhielt die Gemeinde die Genehmigung zur Anlage eines neuen Friedhofs im Eichelbach, nachdem der alte am Stiller Tor keinen Platz mehr bot. Der neue Friedhof wurde im März 1897 geweiht. Das Baujahr der Schule ist nicht bekannt, Quellen deuten jedoch auf das 18. oder den Beginn des 19. Jahrhunderts hin. Eine Mikwa wurde 1890 im Hochparterre des Schulhauses in der Näherstiller Straße 3 eingerichtet, eine andere vermutlich bereits im 16. oder 17. Jahrhundert. Letztere legte das Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie 2015 bei Grabungen im hofseitigen Gewölbekeller des Wohnhauses Hoffnung 38 frei.
Im 19. Jahrhunderts wurden die rund 100 in Schmalkalden ansässigen Jüdinnen und Juden im Zuge der „Judenemanzipation“ wichtige Akteure in der lokalen Kultur und Politik. Sie arbeiteten als Sattler, Metzger, Schneider, Weber, Schuhmacher oder Schlosser. Sie konnten rechtlich Eigentümer ihrer Häuser sein und verfügten über Grundbesitz. In den Jahren 1823 und 1833 wurde die zum Rabbinat Fulda gehöhrende jüdische Gemeinde Schmalkalden – wie alle israelitischen Gemeinden Kurhessens – der Staatsaufsicht unterstellt.
Allerdings nahm auch in Schmalkalden nach der Reichsgründung 1871 der Antisemitismus zu. Aus dem Jahr 1881 ist in Schmalkalden ein Aufruf des „antisemitischen Exekutivkomitees“ zu gewaltsamen Übergriffen gegen Jüdinnen und Juden überliefert.
„Hepp, Hepp, Hepp, Hepp, Hepp, Hepp. Tod den Juden! Mittwoch, 26. Oktober abends 12 Uhr großartiger Kreuzzug gegen die hiesigen Juden. Alle, die dabei sein wollen, mögen sich mit Knüppeln und Stricken bei der Synagoge einfinden. Das antisemitische Exekutiv-Komitee“
Antisemitisches Flugblatt aus dem Jahr 1881. (Stadtarchiv Schmalkalden)
Über die konkreten Ereignisse rund um die „Hepp-Hepp-Unruhen“ in Schmalkalden gibt es leider keine Überlieferung. Die Gewaltbereitschaft und der Antisemitismus, der zu der Zeit verbreitet war, wird jedoch an dem Flugblatt sehr deutlich ablesbar.
Jüdinnen und Juden und jüdische Haushalte in Schmalkalden (1614-1944), Ute Simon.
Gegen Ende des Bestehens der Weimarer Republik führten Jüdinnen und Juden in Schmalkalden 21 Geschäfte, darunter sieben Textilwarengeschäfte, eine Drogerie sowie verschiedene Einzelhandel etwa für Pferde- und Kutschbedarf oder Fleischer- und Pelzverarbeitungsbedarf.
Eine Besonderheit der Geschichte der jüdischen Gemeinde Schmalkalden ist, dass die Synagoge 1929 im Zuge einer verkehrsmäßigen Erschließung der Judengasse vollständig umgebaut und erneuert wurde. Die Idee zur Erneuerung lieferte der Vorsteher der Kreisgemeinden Barchfeld und Schmalkalden, Emil Hahn. Einheimische Handwerksfirmen leisteten sämtliche Arbeiten. Zur Einweihung der neuen Synagoge am 29. September 1929 waren der Provinzialrabbiner aus Fulda, Dr. Cahn, sowie Vertreter der Stadt Schmalkalden, unter ihnen der Bürgermeister, anwesend. Die Zeitung „Thüringer Hausfreund“ berichtete am Tag nach der Einweihung:
„Die umgebaute Synagoge, die jetzt ein archetektonisches Juwel unserer Stadt ist, füllt nun besonders glücklich die Leere der gewesenen Fassade und zeigt sich dem Interessierten in einem strahlenden Weiß, das von der dunklen Farbe des Daches und dem Dunkelblau der Dachrinnen belebt wird.“
(Thüringer Hausfreund, Schmalkalder Anzeiger für Stadt und Land, 52. Jg., Nr. 223, 23.09.1929, S. 3.)
Im Heimatkalender 1930 schrieb Carl Plaut, Mitglied der jüdischen Gemeinde, unter dem Titel „Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens – ein Stück Heimatgeschichte“:
„Zu den Erneuerungsbauten, die das Straßenbild unserer Stadt in besonders glücklicher Weise verschönert haben, gehört der Umbau des jüdischen Gotteshauses, der Synagoge.“
(Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Heimat-Kalender für den Kreis Herrschaft Schmalkalden auf das Jahr 1930. Schmalkalden 1930, S. 29-32.)
Neue Synagoge nach dem Umbau 1929 (Judengasse 9). (Stadtarchiv Schmalkalden)
Im Parteikreis Schmalkalden-Suhl-Schleusingen war seit 1933 Otto Recknagel Landrat und NSDAP-Kreisleiter. Recknagel, enger politischer Weggefährte von des Gauleiters Fritz Sauckel, war seit 1925 NSDAP-Mitglied und von 1933 bis 1945 NSDAP-Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis 12 (Thüringen). Seit 1938 lebte er als Landrat in der Kreisstadt Schmalkalden. Über sich selbst gab er 1934 in einem Lebenslauf an, dass er „zu den 300 ältesten politischen Leitern der Partei“ gehöre und das „Goldene Parteiabzeichen“ besitze.
Otto Recknagel (1897-1983), NSDAP-Kreisleiter des Landkreises Schmalkalden und Mitglied des Reichstags (Wikipedia)
Ab 1933 wurden die Schmalkalder Jüdinnen und Juden zunehmend aus dem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gedrängt. Am 29. März 1933 stimmte der Schmalkalder Stadtrat für das Verbot von Schächtungen nach den jüdischen religiösen Vorschriften. Die Stadtverordnetenversammlung begründete das Verbot damit, dass „nahezu alle deutschen Veterinäre […] die jüdische Schächtung für einen barbarischen, grausamen Brauch“ hielten. Es sei „die Pflicht eines jeden Christen gegen diese Kulturschmach aufzutreten und im Namen der Moral, der Humanität und besonders des Christentums“ vorzugehen (Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, CI/2 Nr. 202, Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 29.03.1933). Infolge der Stadtratsentscheidung musste die jüdische Gemeinde ihre Schächtungsmesser der Polizei übergeben. Das Verbot wurde als ein Sieg des Christentums über das Judentum inszeniert und weist deutlich auf rassistisch motivierten Antisemitismus hin.
Darüber hinaus gab es ab 1933 auch in Schmalkalden Boykottaufrufe für jüdische Geschäfte. Geschäftsleute verloren ihr Gewerbe, die Kinder durften nicht mehr zu Schule gehen. 1936 war die Anzahl jüdischer Unternehmen und selbstständiger Tätigkeit gegenüber 1930 bereits von 27 auf 21 zurückgegangen. Der Verwaltungsbericht 1936 der Stadt Schmalkalden berichtet von 78 in Schmalkalden lebenden Jüdinnen und Juden im Jahr 1936 und 65 im Jahr 1937. In den vorausgegangenen Jahren waren einige ins Ausland emigriert, unter anderem in die USA sowie nach Argentinien.
Der in Schmalkalden ansässige jüdische SPD-Abgeordnete Ludwig Pappenheim war einer der ersten in Schmalkalden verfolgten Juden. Die Nationalsozialisten nahmen ihn mehrfach in „Schutzhaft“, bevor er ins KZ Breitenau deportiert und am 4. Januar 1934 im KZ Neusustrum ermordet wurde. NSDAP-Kreisleiter Otto Recknagel schrieb im August 1933 über Ludwig Pappenheim:
„Die Zersetzungsarbeit, die der Jude Pappenheim die ganzen Jahre hindurch im Kreis Schmalkalden betrieben hat, rechtfertigt unter keinen Umständen eine etwaige Freilassung. Pappenheim ist leider viel zu human nach dem 30. Jan[uar] behandelt worden. Ich muss mich als Kreisleiter ganz entschieden dagegen aussprechen, dass Pappenheim, der etwas ganz anderes verdient hätte, jetzt freigelassen würde und nicht in ein Konzentrationslager käme.“
(Schreiben Otto Recknagel an Landrat Hamann, 2.8.1933, zit. nach: Nothnagel, S. 51.)
Im März 1936 teilte die Stadtverwaltung der israelitischen Kultusgemeinde mit, dass sie beabsichtige, ihren Friedhof zu erwerben. Das Ansinnen des Bürgermeisters wurde durch den Synagogenältesten Nathan Schuster an das Vorsteheramt der Israeliten in Fulda übersandt. Es antwortete am 12. März 1936:
„Auf ihr Schreiben vom 5. ds. Mts. und den ergänzenden Bericht vom 9. März erwidern wir ihnen, dass es religionsgesetzlich nicht statthaft ist, ein Friedhofsgrundstück zu verkaufen. Es ist eine unserer heiligsten Pflichten, darüber zu wachen, dass Friedhofsgrundstücke unveräußerliches Eigentum der Gemeinde sind und bleiben. Auch eine Einebnung des Friedhofes oder Ausgrabung der Leichen nach Jahrzehnten ist streng untersagt.“
(Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Zugangsnr. 09078)
Im Mai 1938 kam der Bürgermeister Schmalkaldens auf die Angelegenheit zurück; in zwei Stadtratssitzungen (16.09. und 20.10.1938) wurde ein Schenkungsvertrag zur Übergabe des Friedhofs zugunsten der Stadt Schmalkalden vorbereitet. Der Synagogenälteste Nathan Schuster weigerte sich, diesen zu unterschreiben. Erst als er nach der Pogromnacht als „Schutzhäftling“ deportiert worden war, gelang es den Nationalsozialisten, die Unterschrift zu erzwingen. Der Gemeindevorsteher Nathan Schuster unterzeichnete den Vertrag zwischen der Gemeinde und der Stadt am 24. November 1938 in Weimar, d.h. vermutlich im KZ Buchenwald. Neben dem Schenkungsvertrag musste der Synagogenälteste einen „Kaufvertrag“ für den neuen jüdischen Friedhof im Eichelbach unterzeichnen. In Paragraph 3 des Schenkungsvertrags verpflichtete sich die Stadt Schmalkalden zum Erhalt der Grabsteine: „[…] die Grabsteine [sind] vom alten Friedhof auf den Friedhof in Eichelbach umzusetzen und […] dort an richtiger Stelle wieder aufzustellen“ (Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Akte 09079).
Die Ereignisse im November 1938
Am Abend des 9. November 1938 fand im Schmalkalden im Bürgersaal eine Versammlung der NSDAP zur Erinnerung an den Hitler-Putsch 1923 in München statt. Kreisleiter Otto Recknagel nutzte die Versammlung, um die anwesenden SS-Mitglieder anzuweisen, Geschäfte in jüdischem Besitz zu zerstören, alle erwachsenen Jüdinnen und Juden in ihren Wohnungen zu verhaften und zur Polizei ins Rathaus zu bringen. Die Männer sperrten sie in Polizei- und Gerichtszellen ein und schlugen sie. Die Frauen ließen sie einige Zeit später wieder frei. In der Nacht brachten die Nationalsozialisten zudem die sich in der Synagoge befindlichen Gegenstände auf den Marktplatz und steckten sie in Brand. Am nächsten Morgen sprengte die SS die Synagoge mit Dynamit, das normalerweise für Arbeiten in einem nahe gelegenen Steinbruch verwendet wurde.
Karl Joachim (Yehuda), der älteste Sohn der jüdischen Familie Schuster in Schmalkalden, schrieb 1943, nach einer Flucht nach Argentinien seine Erlebnisse und Gefühle als Augenzeuge und Opfer der Novemberpogrome in Schmalkalden auf:
„Kaum hatten die Nazigrößen der Stadt den Befehl an SA und SS-Abteilungen weitergegeben, als die Zerstörung der Läden begann. Bis Mitternacht hatte man sämtliche Juden, ganz gleich, ob Männer, Frauen, Kinder, alte Leute, aus den Betten gezerrt und auf dem Altmarkt zusammengetrieben. Von dort aus ging es im Eilschritt zur Synagoge. Die Juden mussten ihr eigenes Gotteshaus selbst ausräumen. Wertvolle Altargeräte, Bänke, Thorarollen, kostbare Teppiche, die an den Wänden hingen, schleppten die verängstigten Menschen zu einem mächtigen Haufen auf dem Marktplatz zusammen. Der alte Markt erlebte ein Bild nazistischer Grausamkeit. Mit verzweifelten Gesichtern mussten die jüdischen Bürger zuschauen, wie in den lodernden Flammen die Heiligtümer ihrer Synagoge vernichtet wurden.“
„[…] Die Nazis sprengten unsere Synagoge, eines der modernsten und schönsten Gebäude der Stadt. In anderen Städten brannten die jahrhundertealten und ehrwürdigen, aus Holz gebauten Synagogen. Unsere war aus Stein. Für sie verwendete man Dynamit. Einige Wochen danach musste die Gemeinde 1.300 Mark bezahlen, um das Gelände mit den Ruinen der Synagoge abzuräumen. […] Die stärksten Männer – darunter mein Vater – mussten die Glasscherben der geplünderten Geschäfte von den Straßen räumen und in Pferdewagen laden. Aber als Pferde wurden sie selbst benutzt. Die SS-Chargen amüsierten sich, indem sie die vollgeladenen Wagen umkippten. Die Arbeit musste dann wieder begonnen werden. Es waren Glasscherben. Die Hände bluteten. Die Nazis lachten. Aber die Wagen wurden beladen.
Am selben Vormittag wurden mehrere der ältesten Juden dem Publikum vorgeführt, wie die Verbrecher im Mittelalter. SS und Polizei bewachten sie. […] Mittags begann sich das Gerücht zu verbreiten, dass die Männer nach Buchenwald transportiert werden sollten. Es war das am nächsten gelegene KZ. Wir konnten, wir wollten es nicht glauben. Aber kurz vor 13.00 Uhr hielten zwei Wagen vorm Polizeirevier. Kurz danach fuhren sie Richtung Norden. […]“
(Bericht von Joachim Schuster, Bahía Blanca, 1943, Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Zeitzeugenberichte, VI.1, Nr. 8)
Die Synagoge nach der Sprengung am 10. November 1938. (Stadtarchiv Schmalkalden, Bildarchiv, Felix Koczik)
Am Vormittag des 10. November mussten jüdische Männer – unter Misshandlungen durch beaufsichtigende SS-Männer – die Scherben der eingeschlagenen Schaufenster und die Trümmer der Synagoge beseitigen und andere Aufräumarbeiten ausführen. Am Abend deportierten die Nationalsozialisten alle männlichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde Schmalkaldens zwischen 15 und 78 Jahren, etwa 50 Personen, in das KZ Buchenwald. Fünf von ihnen verstarben dort, auf dem Rücktransport oder kurze Zeit später.
Ludwig Jacob und sein Vater Karl Jacob bei erzwungenen Aufräumarbeiten in der Steingasse vor dem Geschäft der Familie Meier, unter Aufsicht von SS und Gestapo, 10. November 1938. (Stadtarchiv Schmalkalden, UBeck-021)
Erzwungene Aufräumarbeiten, 10. November 1938. (Stadtarchiv Schmalkalden, UBeck-021)
Die „Thüringer Tageszeitung“ aus Schmalkalden berichtete am 10.11.1938 über den Pogrom:
„Nachdem nun gestern die Nachricht eintraf, dass von Rath seinen Verletzungen erlegen sei, kam es im Verlauf der vergangenen Nacht auch zu Demonstrationen gegen das Judentum in unserer Stadt, bei denen die bekannten jüdischen Geschäfte und die Judensynagoge Schaden genommen haben. Die letzten Juden unserer Stadt wurden in Schutzhaft genommen und mussten in den Vormittagsstunden mit den Aufräumarbeiten beschäftigt werden.“
Folgen
Seit 1939 war es den Jüdinnen und Juden in Schmalkalden nicht mehr erlaubt, Eigentümer ihrer Häuser zu sein. Um weiter in ihren Häusern und Wohnungen zu wohnen, mussten sie Mietverhältnisse eingehen und ihnen wurde lediglich ein kleiner Teil des verfügbaren Raums zur Nutzung überlassen. Neun der noch in Schmalkalden verbliebenen Jüdinnen und Juden im Alter zwischen 31 und 65 Jahren wurden am 1. Juni 1942 „nach dem Osten umgesiedelt“ – sie alle wurden in den Vernichtungslagern Izbica/Sobibor und Majdanek ermordet. Acht weitere Personen, vor allem Frauen, wurden am 7. September 1942 mit einem Transport ab Kassel/ Chemnitz nach Theresienstadt deportiert. Ab 1942 existierte die jüdische Gemeinde Schmalkalden nur noch formell als juristische Person.
Einige der Grundstücke von Jüdinnen und Juden, die deportiert worden waren, kaufte die Stadtverwaltung Schmalkalden an.
Biografien
Ferdinand Müller
Ferdinand Müller wurde am 9. Februar 1860 in Nesselröden geboren. 1899 übernahm er das „Manufaktur- und Modegeschäft“ von Salomon Blüth. Infolge der Pogromnacht wurde der 78-Jährige ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt; er verstarb kurz nach seiner Rückkehr aus Buchenwald am 3. August 1939.
Richard Löwenstein berichtete 1948:
„In dieses Buchenwald wurde am 9. November 1938 auch der alte, in Schmalkalden als reeler Kaufmann hochgeachtete Inhaber eines Konfektionsgeschäfts Ferdinand Müller eingeliefert. Was Rudolf Hertzog in Berlin und für Deutschland einst war, das war Ferdinand Müller für Schmalkalden, Stadt und Kreis. Das Kaufhaus für die Beamten und jene Bürger, die auf vornehme Kleidung erster Güte Wert legten. Es war das Modehaus all jener Beamter, die, gering besoldet, ihre Bedürfnisse für Kleidung und dem Haushalt in
Textilwaren auf Kredit kaufen mussten, der ihnen weitherzig und großzügig vom Geschäftsinhaber gewährt wurde. […] Dann kam der 9. November 1938, wie in ganz Hitlerdeutschland, der große Schlag gegen das Judentum. Auch die Familie Müller wurde von schlagfertiger SS und SA aus den Betten geholt, verhaftet, zur Polizeiwache gebracht und Herr Müller ins Kz.-Lager Buchenwald verschleppt, aus dem er nach bestialischer Behandlung nach einigen Wochen als totkranker Mann nach Schmalkalden zurückkehrte und am 3. August verstarb.“
(Schreiben von Richard Löwenstein, 10.3.1948, zit. nach: Moeglin, Karine, Presence et absence juive Schmalkalden 1812-2000, Diss., Ms., Paris 2003, S. 450)
Ferdinand Müllers Ehefrau Lina (geb. Nattenheimer) wurde am 7. September 1942 zusammen mit ihrer gemeinsamen Tochter und weiteren Schmalkaldener Bürger:innen in das Ghetto Theresienstadt verschleppt.
Ferdinand Müller mit seiner zweiten Ehefrau Lina, undatiert. (Foto: Steven Feist, Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden)
Erzwungene Aufräumarbeiten vor dem in der Pogromnacht verwüsteten Modegeschäft Ferdinand Müller (Salzbrücke 16) in Schmalkalden, 10. November 1938. (Stadtarchiv Schmalkalden, UBeck-023)
Isaak Vogel
Isaak Vogel wurde am 3. September 1874 in Hebel geboren. Um 1900 heiratete er Meta Miriam (Minna) aus einer alteingesessenen Schmalkalder jüdischen Familie. Isaak Vogel betrieb einen kleinen Viehhandel in Schmalkalden, den er krankheitsbedingt aufgeben musste. Unterstützung durch das städtische Wohlfahrtsamt erhielt er nicht, weswegen er auf die Hilfe der jüdischen Gemeinde angewiesen war.
Die Schmalkalder Viehhändler im Verzeichnis der Gewerbetreibenden, Adressbuch 1925. (Handy/Simon, Steine des Gedenkens, Schmalkalden 2018, S. 30)
Am 10. November 1938 verschleppte ihn die Polizei nach der Pogromnacht in das Konzentrationslager Buchenwald, wo er am 27. November an den Folgen seiner Haft starb. Dazu ein Schmalkalder Mithäftling, der damals 18-jährige Hans Hammerschlag:
„[…] Doch bis zur Entlassung aus dem KZ mussten wir und unsere Mithäftlinge unvorstellbare Misshandlungen und Demütigungen ertragen. Viele überlebten es nicht. Nie werde ich vergessen, wie der 64-jährige Isaak Vogel in meinen Armen verstarb.“
(Bericht Hans Hammelschlag, Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Zeitzeugenberichte)
Todesmeldung des KZ Buchenwald für Isaak Vogel, 27. November 1938. Als Todesursache gab die SS „Arterienverkalkung“ an. Isaak Vogel wurde 62 Jahre alt. (Arolsen Archives)
Ludwig Jacob
Ludwig Jacob, geboren am 5. Mai 1922 in Schmalkalden, stammte aus einer alteingesessenen Schmalkalder Familie, die seit mindestens dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Stadt lebte. Ludwig Jacobs Eltern waren Eigentümer eines in der Stadtmitte gelegenen Hauses in der Nähe der Judengasse, in der sich auf die Synagoge befand. In der Pogromnacht hielt er sich der Schüler in Schmalkalden auf und musste am Folgetag helfen, die Trümmer der Synagoge zu beseitigen. Am selben Tag deportierte in die Polizei in das KZ Buchenwald. Nach seiner Entlassung konnte er am 4. Januar 1939 mit einem Kindertransport Deutschland verlassen. Später erinnerte sich an die Novemberpogrome und das KZ Buchenwald:
„Nach den Aufräumungsarbeiten wurden alle jüdischen Männer, auch ich als 15jähriger, auf Lastwagen getrieben und in das KZ Buchenwald gebracht. Wir Schmalkalder standen mit weiteren Südthüringer Juden sowie mit Juden aus Hessen und auch aus Bayern den ganzen Tag auf dem Appellplatz. Erst am Abend gab es den ersten Teller Suppe. Anschließend wurden wir in eine Baracke eingeschlossen und mussten auf den blanken Brettern schlafen. […] Nach zwei Wochen KZ wurde mein Vater aus Buchenwald entlassen. Ich wurde später entlassen und hatte das Glück, von meinem Bruder aus Amsterdam die Papiere zu erhalten, die mir die Ausreise ermöglichten. Meine Eltern blieben in Schmalkalden, ich sah sie nie wieder.“
(Bericht Ludwig Jacob, zit. nach Nothnagel, Juden, S. 70)
Ludwig Jacobs Bruder wurde im Juni 1941 verhaftet und nach Mauthausen deportiert, wo er im November 1941 starb. Ihre Eltern Rosa und Karl Jacob lebten bis 1942 in Schmalkalden, bis sie von Kassel aus deportiert wurden. Ludwig Jacob schloss sich ab 1943 verschiedenen Widerstandsgruppen an. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte er in die USA über, wo er im Jahr 2009 verstarb.
Der Bruder von Ludwig Jacob, Rudolf Jacob (1912–1941). (Privatbesitz Ralf Henry Jacob)
Justizielle Ahndung
In Schmalkalden war das Ziel der zwölften Entnazifizierungssitzung die Rekonstruktion der Vorgänge in der Stadt in der Nacht vom 9./10. November 1938. 73 Personen, deren Beteiligung an der Pogromnacht erwiesen war, erschienen zur Anhörung der Kommission. Diese kam zu dem Schluss, dass „die Bevölkerung insgesamt nicht belastet“ sei. Auch eine materielle Wiedergutmachung fand nicht statt, obwohl bekannt war, dass Schmalkalden zu den Städten gehörte, die sich am meisten an jüdischem Eigentum bereichert hatten.
Otto Recknagel, der Landrat und NSDAP-Kreisleiter, der das Novemberpogrom sowie die Deportationen im Jahr 1942 maßgeblich organisiert hatte, wurde aber am 13. April 1945 gefangen genommen und blieb bis 9. Juli 1948 in amerikanischer Internierung. Das Spruchkammerverfahren im Internierungslager Ludwigsburg stufte Otto Recknagel am 7. Juli 1948 als „Belasteten“ ein. Wegen der bis dahin abgesessenen Internierungshaft von drei Jahren und zwei Monaten wurde er unmittelbar danach entlassen. Die Entnazifizierungskommission für den Kreis Schmalkalden hatte gegen ihn bereits am 10. Oktober 1947 die Zwangsmaßnahmen als „Hauptverbrecher“ nach dem Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland verfügt. Später, am 11. Juli 1951, verurteilte das Landgericht Meiningen Recknagel als „ehem.[aligen] Landrat und Kreisleiter der NSDAP“ in Abwesenheit als „Hauptschuldigen“ zu 15 Jahren Zuchthaus.
Spuren und Gedenken
1948 wurden der alte jüdische Friedhof an der Näherstiller Straße und der neue 1897 im Eichelbach angelegte jüdische Friedhof an den Landesverband Thüringen der jüdischen Gemeinde mit Sitz Erfurt übertragen. Der im 17. Jahrhundert angelegte jüdische Friedhof wurde 1962 abgeräumt und bebaut, die Grabsteine auf dem 1897 neu angelegten jüdischen Friedhof aufgestellt. Auf den alten jüdischen Friedhof aus dem Jahr 1629 weist heute eine große alte Eiche hin. Außerdem befinden sich dort Kunstwerke des Malers Harald Gratz; in der vormaligen jüdischen Schule ist seit kurzem eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte zu sehen. Der neue jüdische Friedhof im Eichelbach wurde 1988 wieder hergerichtet, ein neues Eingangstor gesetzt und die Anlage regelmäßig gepflegt.
Am Standort der 1938 gesprengten Synagoge wurden später Autoteile gelagert und schließlich auf dem Gelände die Halle einer Autoreparaturwerkstatt eingerichtet. 1988 begann in Schmalkalden – wie in vielen Städten der DDR anlässlich des 50. Jahrestag der Pogrome – eine Zeit der Aufarbeitung und des Gedenkens. Im Jahr 1988 brachte man an einem Haus, das an der Stelle der einstigen Synagoge steht, eine Gedenktafel an.
Über die genaueren Geschehnisse der Novemberpogrome schwieg man jedoch zu der Zeit noch. In einer Publikation aus dem Jahr 1988 ist zu lesen, dass „fast alle Leute“, die der Autor befragt hatte, ihm keine genaue Auskunft geben konnten, was mit den jüdischen Bürger:innen nach den Pogromen passiert war.
„Die häufigste Antwort lautete: ‚Die sind alle ins KZ gekommen.‘ Doch keiner meiner Interviewpartner hatte mitbekommen, wann und wie z. B. sein jüdischer Nachbar von der SA bzw. der SS oder der Polizei abgeholt wurde.“
(Jüdische Landesgemeinde Thüringen (Hg.), Die Novemberpogrome. Gegen das Vergessen. Eisenach, Gotha, Schmalkalden. Spuren jüdischen Lebens, Eisenach 1988, S. 72)
Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge, Judengasse 9, undatiert. (Stadtarchiv Schmalkalden, Bildarchiv, Wieland Otto)
Die Gedenktafel wurde 2018 – anlässlich des 80. Jahrestags der Pogrome – erneuert und eine weitere hinzugefügt. Heute befindet sich dort der Neubau einer VR-Bank.
Die 1938 in „Hoffnung“ umbenannte Judengasse erhielt 1991 ihren ursprünglichen Namen zurück.
Zwischen den Jahren 2009 und 2016 wurden 34 „Steine des Gedenkens“ (Stolpersteine) gesetzt.
Seit einigen Jahren werden in Schmalkalden Stadtführungen unter dem Titel „Gegen das Vergessen – Jüdisches Leben in Schmalkalden“ angeboten.
Außerdem gibt es das Projekt „Offene Augen“, bei dem internationale Künstler:innen eingeladen werden, um durch Kunst im öffentlichen Raum einen lebendigen Diskurs über jüdische Geschichte in Schmalkalden zu eröffnen.
(Kopie 1)
Quellen und Literatur
Moeglin, Karine: Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens zwischen Existenz und Nichtexistenz in der Zeit von 1812-2000. Hg. Vom Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden-Meiningen, Schmalkalden 2022.
Nothnagel, Hans (Hg.): Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, Bd. 4, Pappenheim, Kurt, Die jüdische Gemeinde Schmalkalden und ihr Ende im Holocaust, Suhl 1999.
Schwierz, Israel: Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, unter Mitarbeit von Johannes Mötsch, Erfurt 2007.
Simon, Ute/Handy, P.: „Steine des Gedenkens für die Juden in Schmalkalden“, Schmalkalden 2018.
Simon, Ute, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Schmalkalden, in: Schmalkaldische Geschichtsblätter 11(2021), S. 5–18.
Links
Website Gegen das Vergessen, jüdische Geschichte in Schmalkalden: https://www.schmalkalden.com/sehenswertes/juedisches-leben/
Autorinnen: Ute Simon, Anna Weichmann