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WEIMAR

Vorgeschichte

In Weimar gab es, wie vielerorts im mitteldeutschen Raum, im 14./15. Jahrhundert erste Ansiedlungen jüdischer Familien. Ihrer Vertreibung folgte seit dem 16. Jahrhundert eine zehn Generationen währende Judenfeindschaft, die mit evangelisch-lutherischen Glaubenssätzen begründet und Landesgesetz wurde. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts blieb es Jüdinnen und Juden untersagt, sich in Weimar frei anzusiedeln. Lediglich einzelne jüdische Familien, die für die Wirtschaft des Hofes notwendig waren, erhielten seit 1770 ein Wohnrecht. Sie unterhielten einen Betsaal, zwei benachbarte Familienfriedhöfe und eine Mikwe. Diesen Familien verdankt Weimar die finanzielle Förderung des Bahnbaus sowie die Initiative zur ersten großen Industrieansiedlung nördlich des Bahnhofs. Es waren vor allem Kaufleute und kleine Handwerker, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts neu zuzogen. Ihr Vorhaben, eine Gemeinde zu gründen, gelang erst im August 1903, als sie sich zum Israelitischen Religionsverein zusammenschlossen. Der Religionsverein wurde Mitglied im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, ging aber nicht den Schritt zur Kultusgemeinde und war auch im öffentlich sichtbaren Vereinsregister nicht eingetragen. Auswärtige Lehrer führten den jüdischen Religionsunterricht in verschiedenen Schulen durch, an den Hohen Feiertagen traf man sich in wechselnden Lokalitäten, zuletzt im Hotel „Chemnitius“ in der Mitte der Stadt. 1925 zählte der Religionsverein 25 Mitglieder, das heißt ein Viertel der erwachsenen jüdischen Einwohner der Stadt.


Bis zur Jahrhundertwende achtete die politische Stadtspitze noch darauf, dass sich der Antisemitismus in der Öffentlichkeit nicht artikulieren durfte. Mit der stärkeren nationalistischen Ausrichtung zog die Stadt jedoch antisemitische Agitatoren, zum Beispiel den Literaturwissenschaftler Adolf Bartels, an. Sie vergifteten schon vor dem 1. Weltkrieg das Klima. Die Stadt der verfassungsgebenden Versammlung der Weimarer Republik wurde in den 1920er Jahren zum Aufmarschort der Völkischen und Antisemiten, und schließlich schon 1932 zum Sitz der ersten nationalsozialistischen Landesregierung. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurden schon in dieser Zeit Künstler, wie der Kapellmeister Ernst Latzko, oder Angestellte, wie der Staatsbankpräsident Dr. Walter Loeb (SPD), aus ihren Positionen und aus der Stadt vertrieben. 1927 beging ein Student der Weimarer Kunstschule wegen antisemitischen Mobbings Selbstmord. 



Weimarer Postkarte, 1930er Jahre. Die NS-Gauhauptstadt Weimar passte sogar ihr Stadtwappen dem Hakenkreuz an. (Sammlung H. Stein)


Der antisemitische Aprilboykott 1933 traf Geschäftsleute wie auch verbliebene Künstlerinnen und Künstler des Nationaltheaters. Ein Jahr später zettelten Nationalsozialisten einen der ersten Prozesse wegen „Rassenschande“ gegen einen Weimarer Kaufmann an, im August 1935 setzten SA-Leute diffamierende, judenfeindliche Schilder an den Zufahrtstraßen. Zu diesem Zeitpunkt war die Filiale der Kaufhauskette Tietz am Markt bereits aus dem Stadtbild verschwunden.



Kaufhaus Kröger am Markt, Mitte der 1930er Jahre. Das von der Firma H. Tietz gegründete und errichtete Kaufhaus gehörte zu den ersten jüdischen Unternehmen, die enteignet wurden. (Sammlung H. Stein)


Jüdische Gewerbetreibende mussten im Laufe des Jahres 1938 ihre Geschäfte aufgeben, zuletzt auch das angesehene Warenhaus Sachs & Berlowitz im Zentrum der Stadt. Einige Weimarer Juden, wie der letzte Geschäftsführer des Religionsvereins, der Opernsänger Emil Fischer, emigrierten mit ihren Familien.



Kaufhaus Sachs & Berlowitz in der Schillerstraße, 1930er Jahre. Das Kaufhaus wurde im Laufe des Jahres 1938 "arisiert". Trotzdem wurde der Inhaber, Israel Sachs, im November 1938 in Buchenwald inhaftiert und noch zum Verkauf seiner Grundstücke gezwungen. Er floh später nach Palästina. (Sammlung H. Stein, courtesy Peter Sachs, Houston)



Anzeige des Kaufhauses Sachs & Berlowitz, 1927. (Thüringische Landeszeitung Deutschland)

Die Ereignisse im November

Die regionale Presse kommentierte das Attentat Grynszpans am 7. November 1938 in Paris mit Überschriften wie „Die Schreckensspur jüdischer Mordhetze“ und sprach von jüdischem Meuchelmord. Wichtiger waren der regionalen Berichterstattung aber die Durchführung von Veranstaltungen zum Jahrestag des 9. Novembers 1923; die Lokalseite berichtete vom Martinstag und der Schillerfeier. Die Ausschreitungen des Pogroms am 9./10. November 1938 waren nur überregionales Thema.


In Weimar gab es zum Zeitpunkt des Novemberpogroms keinen Betsaal mehr. Nur ein kleines Geschäft in der Teichgasse 6 war noch in jüdischem Besitz: der Schreibwaren- und Puppenladen Hedwig Hetemann, die „Puppen-Klinik“ der Stadt. Mit der gleichen Systematik wie überall überfielen Weimarer SS- und SA-Leute den Laden in der Teichgasse 6, warfen die Auslagen auf die Straße und mißhandelten die alte Frau. Weder am 10. November noch später trat jemand für sie ein.



Anzeige des Puppengeschäfts von Hedwig Hetemann, Teichgasse 6, 15. November 1927. (Thüringische Landeszeitung Deutschland)


 Augenzeugen erinnern sich, dass sogar Geschäfte, die seit längerer Zeit den Besitzer gewechselt hatten, noch mit Davidsternen bemalt wurden. Trotzdem verlief der Tag in der Gauhauptstadt offenbar ohne große öffentliche Demonstrationen; die Verhaftung von jüdischen Männern durch die Gestapo blieb unbemerkt. Neben dem siebzigjährigen Israel Berlowitz, den Brüdern Kurt und Karl Sachs, Jakob Appel, David Tultschinski, Jakob Katzenstein, Hans Gutmann und Ernst Bendix verhaftete die Gestapo mit Julius Wiener, Kurt Rosenstein und Dr. Hans Adolf Salomon auch Ehemänner aus sogenannten Mischehen. 



Geldkarte des KZ Buchenwald von Karl Sachs, November 1938. Karl Sachs konnte 1940 nach Shanghai flüchten.  (Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar)


In anderer Hinsicht stand Weimar im Brennpunkt des Pogroms. Der Hauptbahnhof geriet vom 10. bis 14. November zum Umschlagplatz für Tausende von jüdischen Gefangenen, die in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht wurden. SS und Hilfspolizei prügelten sie durch den Bahnsteigtunnel neben dem „Fürsteneingang“ auf bereitstehende Lastkraftwagen. Weimarer Bürger waren Augenzeugen. 



Hauptbahnhof Weimar, um 1930. Rechts im Bild der "Fürsteneingang". Neben ihm mündete der Fußgängertunnel von den Bahnsteigen, wo Juden im November 1938 brutal misshandelt wurden. Heute befindet sich dort eine Gedenktafel. (Sammlung H. Stein)


 

Folgen

Israel Berlowitz musste einige Tage im Lager bleiben, wo die Gestapo von ihm die Zusage zum Verkauf seines Wohnhauses erpresste. Die anderen, auch die Ehemänner aus „Mischehen“, wurden nach zwei bis vier Wochen aus Buchenwald entlassen. Keiner von ihnen hat später darüber berichten können. Dr. Hans Adolf Salomon wählte nach der Entlassung am 1. Dezember 1938 den Freitod. Ernst Bendix, der Sohn eines Berliner Möbelfabrikanten, wohnhaft in der Gutenbergstraße 6, kam am 10. Dezember 1938 im Konzentrationslager Buchenwald um. Die Stadtverwaltung schickte seine Urne – er wurde im Krematorium auf dem Hauptfriedhof eingeäschert – an den Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in Berlin-Weißensee.



Todesmeldung des KZ Buchenwald für Ernst Bendix, 11. Dezember 1938. Als Todesursache gab die SS „Lungenentzündung“ an. (Arolsen Archives)


Es gab auch Hilfe: Bahnhofsvorsteher Müller ließ im Wartesaal des Weimarer Bahnhofs eine Ecke einrichten, wo Frauen aus den jüdischen Gemeinden Erfurt und Weimar die aus Buchenwald Entlassenen empfingen, versorgten und für die Heimfahrt ausstatteten.


Am 13. November schrieb die Thüringer Presse: Juden dürften nicht mehr Geschäftsführer sein, keinen selbständigen Betrieb oder Einzelverkaufsstellen leiten, kein Versandgeschäft oder einen Handwerksbetrieb besitzen. Außerdem verhängte man eine als „Judenkontribution“ bezeichnete „Sühne“ von 1 Milliarde Mark, zu der alle deutschen Juden mit einem Besitz von über 5.000 Reichsmark gezwungen waren. Angeblich betraf das 776 Juden in Thüringen, die zur Zahlung aufgefordert waren. Für Weimar gab man 30 Juden sowie fünf nichtjüdische Ehepartner an. Wie sich die als Besitz erklärten 5.000 Reichsmark konkret zusammensetzten – ob aus Grundbesitz, Hausbesitz oder allein aus Bargeld –, legte man nicht offen. So sahen sich zum Beispiel die Familien Ortweiler und Appel im Brühl 6 außerstande, die Summe zu zahlen, da offensichtlich der Hausbesitz mit enthalten war. 


Infolgedessen prüfte zunächst der Zweckverband Bauten am „Platz Adolf Hitlers“ für das NS-Gauforum, ob man die Notlage ausnutzen und das Haus billig erpressen sollte. Ganz ungeniert wurde dabei der Begriff „Zwangsverkauf“ verwendet. Da sich für den Zweckverband jedoch keine Nutzungsmöglichkeit andeutete, informierte dieser die Stadtverwaltung im Februar 1939 über die günstige Möglichkeit, die ausstehenden 5.500 Reichsmark „Judenabgabe“ der Familien im Brühl zu nutzen, um das Haus billig zu übernehmen. Die Stadt verzichtete.

Biographien

Biographien der beim Pogrom 1938 verfolgten Jüdinnen und Juden können auf der Seite des Vereins „Lernort Weimar“ nachgelesen werden: https://lernort-weimar.de/

Justizielle Ahndung

Die Vorgänge am 9./10. November waren zu keiner Zeit Gegenstand juristischer Verfolgung. Bis in die 1980er Jahre gab es nicht einmal eine öffentliche Berichterstattung davon. 

Spuren und Gedenken

Eine Bronzetafel erinnert am Weimarer Bahnhof an die Deportationen nach Buchenwald im November 1938. Es gibt Stolpersteine für: Israel Berlowitz, Hedwig Hetemann, Karl und Kurt Sachs. 


In der Gedenkstätte Buchenwald erinnert ein Gedenkstein an die Opfer des am 10. November 1938 eingerichteten Pogrom-„Sonderlagers“.



Gedenktafel am Hauptbahnhof Weimar, 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)


Der jüdische Friedhof in der Leibnizallee wurde 1983 instandgesetzt. Ein Gedenkstein auf dem Friedhof erinnert an die jüdischen Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt.



Eingang zum jüdischen Friedhof an der Leibnizallee, November 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)



1983 restaurierter jüdischer Friedhof mit Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus (vorne links), November 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)

(Kopie 1)

Weiterführende Literatur

Müller, Erika/Stein, Harry: Jüdische Familien in Weimar vom 19. Jahrhundert bis 1945. Ihre Verfolgung und Vernichtung, Weimar 1998 (Weimarer Schriften, Heft 55).

Links

Lernort Weimar e.V.: https://lernort-weimar.de/

Förderverein Buchenwald, Gedenkstätte Buchenwald: Stadtplan Weimar im Nationalsozialismus: https://www.weimar-im-ns.de/

 

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Autor: Dr. Harry Stein, Weimar