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Vorgeschichte

Bereits im 14 Jahrhundert sollen Juden in Ellrich gelebt haben, sie wurden aber wohl Opfer der Pestpogrome 1348/49. Im 16. Jahrhundert werden Ellricher Juden urkundlich erwähnt, in größerer Zahl siedelten sie sich aber erst nach 1620 in der Stadt an. Um 1700 gründete sich eine jüdische Gemeinde, deren religiöser Mittelpunkt die 1730 erbaute Synagoge in der Jüdenstraße war. Es handelte sich um einen rechteckigen Holzfachwerkbau mit einem Betraum für Männer und einer Empore für Frauen. Der Zugang erfolgte durch das Vorderhaus, in dem spätestens ab den 1930er Jahren eine nichtjüdische Familie wohnte. Ab Ende des 18. Jahrhunderts gab es einen jüdischen Friedhof vor dem Walkenrieder Tor, am Ende der heutigen Töpferstraße.


Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Gemeinde mit fast 150 Personen ihre höchsten Mitgliederzahlen. Danach gingen die Zahlen durch Abwanderung in die nahe Kreisstadt Nordhausen und in andere größere Städte zurück. Zu Beginn der NS-Herrschaft 1933 lebten nach Angaben des Landrates noch 25 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Wegen des Mitgliederschwundes der Gemeinde fanden seit 1909 keine Gottesdienste mehr in der Synagoge statt; für Beerdigungen wurde der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Nordhausen herangezogen.



Stempel der jüdischen Gemeinde Ellrich mit Unterschrift ihres letzten Vorstehers Wilhelm Nußbaum, 1928. Wilhelm Nußbaum, geb. am 7. November 1878 in Kaltennordheim, wurde Ende März 1942 von Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert und hat dieses vermutlich nicht überlebt. (Kreisarchiv Nordhausen)


Wirtschaftlich war die Lage in der etwa 4600 Einwohner:innen zählenden Stadt Ellrich während der Weimarer Republik schlecht. Grund war vor allem der Niedergang der Gipsindustrie, von der die Stadt bis zum Ersten Weltkrieg gelebt hatte. In der von Industrie und Handel geprägten Kleinstadt war lange die SPD stärkste Kraft. In den Juliwahlen 1932 löste sie die NSDAP mit über 40 Prozent der Stimmen als stärkste Partei ab, aber auch die KPD konnte recht gute Ergebnisse erzielen – bei den Märzwahlen 1933 erzielte sie trotz der Verhaftung vieler ihrer Funktionäre immerhin noch 26 Prozent. Trotzdem gelang es den Nationalsozialisten 1933, ihre Macht in der Stadt schnell zu festigen.



Kranzniederlegung durch lokale NS-Funktionäre vor dem 1938 errichteten Kriegerehrenmal, Datum unbekannt. Dritter von links in der vorderen Reihe: NS-Bürgermeister Friedrich Petri. (Ralf Oehler)
 


Wie überall im Deutschen Reich litten die jüdischen Einwohner:innen auch in Ellrich ab 1933 unter Ausgrenzung, Entrechtung, Berufsbeschränkungen und erzwungenen Enteignungen. Ob die Geschäfte jüdischer Eigentümer vom reichsweiten „Judenboykott“ am 1. April 1933 betroffen waren, lässt sich nicht mehr klären. Sicher ist, dass Fritz Lieberg, Eigentümer einer Baumwollweberei, die mit über 100 Beschäftigten die größte Fabrik vor Ort war, im Sommer 1938 gezwungen war, seinen Betrieb in der Nähe des Bahnhofes an einen „arischen“ Deutschen abzutreten. Ihm gelang dann die Auswanderung. Anfang November 1938 lebten noch 12 von den NS-Behörden als Juden kategorisierte Personen in der Stadt.



Helga Lieberg (rechts), Tochter des Webereibesitzers Lieberg, am Tag ihrer Einschulung, um 1933. Nach der „Arisierung“ ihres Betriebes gelang es der Familie Lieberg, noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges in die USA zu emigrieren. (Foto: privat)

Die Ereignisse im November 1938

In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 drang der antisemitische Mob in die Wohnungen und Geschäfte Ellricher Juden ein, zerstörte Mobiliar und Schaufenster, misshandelte die Bewohner und brachte sie in das Polizeigefängnis im Ellricher Rathaus. Die über 300 Jahre alte Synagoge in der nun nach dem NS-„Märtyrer“ Horst Wessel benannten Jüdenstraße (es handelte sich um das Hinterhaus in der Horst-Wessel-Straße 25) wurde angezündet. Als die Flammen auf benachbarte Gebäude überzugreifen drohten, griff die Feuerwehr ein, löschte die Brandherde und riss das beschädigte Gebäude ein. Kostbare Einrichtungsgegenstände, etwa fünf wertvolle Kronleuchter in Gelbkupfer und ein mit barocken Schnitzereien versehener Heiliger Schrein, waren damit für immer verloren.



Umzug der Reichswehr durch die Jüdenstraße, um 1923. (Stadtmuseum Ellrich)
 


Noch am selben Tag berichtete Bürgermeister Friedrich Petri dem Landrat in Nordhausen von den Ereignissen in der Nacht: „Durch den feigen Mordüberfall des Juden Grynzpan auf den deutschen Gesandtschaftsrat vom Rath herrschte unter den Volksgenossen in Ellrich eine große Erregung. Als nun gestern Abend bekannt wurde, dass vom Rath seinen Verletzungen erlegen ist, machte sich die Erregung der Bevölkerung in der vergangenen Nacht durch judenfeindliche Demonstrationen Luft. Die Volksgenossen zogen vor die Häuser der in Ellrich wohnenden Juden, zerschlugen Schaufenster, Türen und Fensterscheiben. Die außerordentliche Erregung der Bevölkerung ließ größere Gewalttätigkeiten befürchten, das Leben der Juden war bedroht, und so sah ich mich gezwungen, die hier lebenden Juden durch die Polizeibeamten in Schutzhaft nehmen zu lassen. […]


Nach Inhaftnahme der vorbezeichneten Juden beruhigten sich die Volksgenossen und gingen nach Hause. Vor den Häusern der Juden habe ich SS Posten aufgestellt. Die Synagoge wurde von den erregten Volksgenossen in Trümmer gelegt.“ 




Schreiben von Bürgermeister Friedrich Petri an den Landrat des Greises Grafschaft Hohenstein, Wolf von Wolffersdorf, 10.11.1938. (Thür. Staatsarchiv Gotha, Landratsamt Nordhausen 522, Bl. 15 f.)
 


In Schutzhaft genommen wurden den Angaben des Bürgermeisters zufolge sieben Personen, ausschließlich ältere Männer und Frauen. Dass es dabei deutlich gewalttätiger zuging als von Bürgermeister Petri behauptet, wird aus den Schilderungen des Ellricher Lokalhistorikers 


Helmut Drechsler deutlich, der den Pogrom als Kind erlebte und und später darüber berichtete: 


„Der frühe Morgen des 10. November 1938 in unserer Stadt zeigte das gewohnte Bild aller anderen Tage, nämlich Ruhe. Nur in den Bäckereien wurde schon gearbeitet. […] Plötzlich Lärm in der Straße Zwischen den Toren, Geschrei, antijüdische Schmährufe, Klirren und Splittern von Glas, Schläge gegen die Haustür des Textilgeschäftes Nußbaum, bis sie aufbrach. Eine Gruppe der Gewalttäter drang ein, zerstörte einen Teil der Einrichtung, warf im Geschäft alles durcheinander, zerrte schließlich das völlig verstörte Ehepaar Nußbaum aus dem Haus und trieb es unter Gejohle Richtung Rathaus, wobei Herr Nußbaum geschlagen wurde. 


Erschreckte Anwohner der Straße wurden unter Drohungen von den Fenstern verscheucht. Und schon hatte die Meute die Jüdenstraße erreicht [die Verlängerung der Straße Zwischen den Toren], Steine wurden aus dem Zorge-Flussbett herausgeworfen, Schaufensterscheiben splitterten, Türen brachen […].


Die bereitwillig und diensteifrig geöffneten Türen des Vordergebäudes Jüdenstraße 25, hinter dem die Synagoge stand, lassen darauf schließen, dass hier eine Vorabsprache getätigt, also die Aktion genau geplant worden war […]. Eine ehemalige Bewohnerin des genannten Hauses erinnert sich noch genau des Ablaufs der Synagogenzerstörung, weil die Angst, die sie damals empfand, ihr dieses Bild ins Gedächtnis brannte: Die Synagoge wurde aufgebrochen, eilfertig holten einige der beteiligten Teppiche und andere Gegenstände heraus, sich persönlich bereichernd. Von draußen schallte es: ‚Jetzt sengen wir den Judentempel ab!‘ Als erster Rauch aufstieg, gab es endlich massiven Protest der Anwohner, die nun direkte Gefahr für ihre angrenzenden Häuser sahen. Von ihnen musste wohl auch die Feuerwehr alarmiert worden sein. Die Brandherde wurden gelöscht, das schon stark beschädigte altersschwache Gebäude wurde eingerissen, alles begrabend, was an kultur- und kunsthistorischen Werten noch vorhanden war.“


(Helmut Drechsler, Die Geschichte der Ellricher Juden von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen, Heft 8/1983, S. 43-51, hier S. 48 f.)



Innenraum der Ellricher Synagoge, vor 1926. (Zeitschrift Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Kultur, Heft 9, September 1926, S. 527)
 



„In der Nacht zum 10.11.38 zerstört.“ Veränderungsmeldung zum Verzeichnis der jüdischen Gemeindebetriebe in Ellrich, erstellt von Bürgermeister Friedrich Petri, 24. Februar 1939. (Kreisarchiv Nordhausen)
 


Noch am gleichen Tag brachte die Polizei alle Verhafteten vom Gefängnis im Ellricher Rathaus in das Polizeigefängnis im Siechhof in Nordhausen. Über 80 jüdische Männer aus dem Kreis Grafschaft Hohenstein verschleppte die Polizei von dort aus in das KZ Buchenwald, darunter aus Ellrich die beiden Kaufleute Wilhelm Nußbaum und Max Bernstein. Die jüdischen Frauen aus Ellrich, die zunächst ebenfalls festgenommen und nach Nordhausen gebracht worden waren, ließ die Polizei dagegen bald wieder frei. 



Ehemaliges Polizeigefängnis im Hinterhof der Stadtverwaltung Ellrich in der Salzstraße, Mai 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)

Folgen

Von den aus dem KZ Buchenwald Freigekommenen versuchten viele nach ihrer Entlassung, Deutschland möglichst schnell mit ihren Familien zu verlassen. Über ihre Leidenszeit in Buchenwald schwiegen die meisten aus Angst, erneut verhaftet zu wer­den. Angesichts der restriktiven Einwanderungsbestimmungen in vielen Ländern und aus finan­ziellen Gründen gelang es zahlreichen jüdischen Familien nicht, ins Ausland zu entkommen. Oft erhielten auch nur einzelne Familienmitglieder das begehrte Visum. Als am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, gab es kaum noch eine Chance, legal auszureisen. Für die in Deutschland gebliebenen Juden verschlimmerte sich die Lage nun zuse­hends. Ständig neue Verbote und Einschränkungen machten das Leben immer schwerer.


Die beiden letzten noch bestehenden Geschäfte jüdischer Eigentümer, das von Max und Selma Bernstein geführte Konfektionsgeschäft Bernstein in der Schützenstraße 1 (jetzt Lindenstraße) und das von Wilhelm Nußbaum geführte Textilgeschäft Frohnhausen in der Horst-Wessel-Straße (Zwischen den Toren) 9 mussten am 10. November 1938 ihren Betrieb einstellen. Anfang 1939 wurden sie aus dem Gewerberegister abgemeldet. Beide Eigentümer überlebten die Shoah nicht.



Vom Bürgermeister der Stadt Ellrich erstelltes „Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe“, 24. Februar 1939. (Kreisarchiv Nordhausen)



Bekleidungsgeschäft E. Frohnhausen in der Straße Zwischen den Toren, 1920er Jahre. Das Geschäft gehörte Wilhelm und Martha Nußbaum. (Heimatmuseum Ellrich)



Straße Zwischen den Toren, Juni 2023. Links das ehemalige Bekleidungsgeschäft E. Frohnhausen. (Foto: Jens-Christian Wagner)


In den Monaten nach dem Pogrom zogen die meisten noch in Ellrich lebenden Jüdinnen und Juden in sogenannte Judenhäuser nach Nordhausen um, so etwa die Ehepaare Bernstein und Dessauer. Im Mai 1940 lebten nur noch zwei jüdische Frauen in Ellrich: die 83-jährige Fanny Bernstein und ihre 79-jährige Schwester Rosa Bernstein. Wenig später zogen aber auch sie zu ihrem Bruder Max nach Nordhausen. Von dort wurden sie wie alle anderen noch in Nordhausen lebenden Juden im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Mindestens 15 in Ellrich geborene Jüdinnen und Juden haben die Shoah nicht überlebt.



Mitteilung der Kreissparkasse Nordhausen an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, 25. Mai 1943. Es wird mitgeteilt, dass das Guthaben von Fanny Dessauer in Höhe von 883 RM auf das „Sonderkonto H.“ (Heimunterbringung) der Reichsvereinigung der Juden überwiesen wurde. Das Geld musste die Reichsvereinigung der Juden als Gebühr für die Unterbringung der Deportierten in Ghettos an das Deutsche Reich abtreten. Fanny Dessauer, geboren 1860 in Ellrich, wurde am 19. September 1942 von Nordhausen in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort starb sie knapp drei Wochen später am 7. Oktober 1942. (Arolsen Archives)

Biographien

Max und Selma Bernstein


Max Michael (nach einigen Quellen Michaelis) Bernstein wurde am 30. Mai 1863 in Ellrich geboren. Er war Inhaber eines Kleidungsgeschäftes, das er zusammen mit seiner Frau Selma (geb. 29. August 1873) führte. Das Ehepaar wohnte in der Lindenstraße 1, unmittelbar an der Ecke zur Jüdenstraße. Bereits als junger Mann engagierte sich Max Bernstein für die jüdische Gemeinde seiner Heimatstadt. 1896 wurde er zum Vorsteher der Gemeinde gewählt, eine Funktion, die er – zweitweise auch als stellvertretender Vorsteher – bis in die 1930er Jahre behielt.



„Ich nehme die Wahl an.“ Aktennotiz zur Wahl Max Bernsteins zum Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Ellrich, 15. Juni 1896. (Kreisarchiv Nordhausen) 


In den Morgenstunden des 10. November 1938 drang der antisemitische Mob in das Haus des Ehepaars Bernsteins ein. Der Ellricher Heimathistoriker Helmut Drechsler berichtete darüber päter:


„Fassungslose Nachbarn, vom Anblick wie gelähmt, hörten die Frau Bernstein schreien, sahen sie, von den Gewalttätern verfolgt, in Panik durch die nun erleuchteten Zimmer der Wohnung fliehen, bis sie schließlich aus dem Heim getrieben wurde, ebenfalls in Richtung Rathaus (dort befand sich ja auch das Gefängnis). Noch schrecklicher wurde mit dem altersschwachen Herrn Bernstein verfahren. An den Beinen zerrte man ihn die Treppe hinunter; sein Kopf schlug dabei polternd von Stufe zu Stufe.


Auch das Haus der Schwestern Max Bernsteins wurde erbrochen; sie waren wohl durch den Schock gar nicht in der Lage, zu reagieren. Gehbehindert, wurden sie im Nachtgewand bzw. Morgenrock auf einen kleinen Morgenrock gezwängt, eine von ihnen verlor einen Hausschuh, und unter Hohn und hassvollem Spott der ‚Begleitmannschaft‘ rasselte das Gefährt davon.“


(Helmut Drechsler, Die Geschichte der Ellricher Juden von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen, Heft 8/1983, S. 43-51, hier S. 49)



Blick von der Zorge-Brücke in die Jüdenstraße, 1920er Jahre. Rechts das Konfektionsgeschäft Max Bernstein. (Stadtmuseum Ellrich)


 



Ehemaliges Wohnhaus der Familie Bernstein an der Ecke Jüdenstraße/Lindenstraße, Mai 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)


Während Selma Bernstein und ihre Schwägerinnen noch am selben Tag wieder freigelassen wurden, wies die Polizei Max Bernstein in das KZ Buchenwald ein. Dorthin wurde mit einem Einzeltransport aus Ellrich (durchgeführt mit einem Auto der Drogerie St. Johannis, die der Stadt Ellrich dafür 37,50 RM in Rechnung stellte) auch der 1906 geborene Sohn des Ehepaars Kurt Bernstein gebracht, der in Berlin lebte und am 10. November 1938 bei Bürgermeister Petri erschienen war, um sich nach dem Verbleib seiner Eltern zu erkundigen. 


Max Bernstein überlebte in Buchenwald trotz seines Alters von 75 Jahren Schikanen und Misshandlungen und wurde am 14. Dezember 1938 wieder entlassen. Das weitere Schicksal seines Sohnes Kurt ist nicht bekannt. Sicher ist lediglich, dass er sich am 3. Januar 1939 noch im KZ Buchenwald befand.



Pimpf der Hitlerjugend vor dem Geschäfts- und Wohnhaus von Max und Selma Bernstein, undatiert. (Jens Koppe, Stadtmuseum Ellrich)


Anfang der 1940er Jahre zog das Ehepaar Bernstein nach Nordhausen um und wohnte dort in sogenannten Judenhäusern zunächst in der Töpferstraße 25 und zuletzt in der Arnoldstraße 17. Im September 1942 deportierte die Gestapo das Ehepaar Bernstein und Max Bernsteins zuletzt ebenfalls in Nordhausen wohnende ältere Schwester Rosa Bernstein (geb. am 15. Februar 1861) in das Ghetto Theresienstadt. Max Bernstein starb dort nur zwei Monate später, am 19. November 1942, seine Schwester Rosa starb wenige Wochen später, am 15. Dezember 1942. Selma Bernstein hingegen überlebte. Im Februar 1945 kam sie vermutlich mit einem Transport von 1200 aus Theresienstadt freigekauften jüdischen Gefangenen in die Schweiz. Dort verliert sich ihre Spur.


Sowohl Max Bernstein als auch seine Schwester Rosa mussten vor der Deportation in das Ghetto ihr gesamtes Vermögen an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland abtreten, die das Geld als Bezahlung für die Unterbringung im Ghetto Theresienstadt an den deutschen Staat weiterreichen musste. Das Deutsche Reich ließ sich die Unterbringung in der „Gemeinschaftsunterkunft“ im Ghetto also von den Deportierten selbst bezahlen.



„Heimeinkaufsvertrag“ zwischen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und Michaelis Bernstein, 19. September 1942. Michaelis Bernstein musste sein gesamtes Vermögen in Höhe von 6600 RM als Bezahlung für die „Gemeinschaftsunterbringung“ im Ghetto Theresienstadt an den Staat abtreten. Einen gleichlautenden Vertrag über 1200 RM musste seine Schwester Rosa abschließen. Beide starben nur wenige Wochen nach der Ankunft in Theresienstadt. (Arolsen Archives)


Walter und Hans Richter


Dr. Walter Richter, geboren 1883 in Ellrich, war Rechtsanwalt und Mitinhaber der Harzer Papiersackfabrik in Ellrich. Verheiratet war er mit Agnes Richter (geb. Probst), einer evangelischen Nichtjüdin. Die beiden hatten einen Sohn, den 1910 geborenen Hans Richter.


Als politischer Gegner der Nationalsozialisten wurde Walter Richter im Sommer 1933 für einige Tage in „Schutzhaft“ genommen und im Polizeigefängnis von Ellrich inhaftiert. Am 10. November wurde er zusammen mit seinem Sohn und anderen jüdischen Männern aus dem Landkreis Nordhausen in das KZ Buchenwald verschleppt. Mitte Dezember wurden Walter und hans Richter wieder nach Hause entlassen. Im Frühjahr 1939 wurde Walter Richter ein drittes Mal verhaftet; er nahm sich am 26. April 1939 im Gerichtsgefängnis Nordhausen das Leben.



Aktennotiz des Verwalters des Polizeigefängnisses Ellrich zu den Verpflegungskosten für die Schutzhaft von Walter Richter, Juli 1933. (Kreisarchiv Nordhausen)



2015 verlegter Stolperstein für Walter Richter in der Großen Bahnhofstraße. (Wikipedia Commons)


Hans Richter galt wegen seiner nichtjüdischen Mutter als „Halbjude“. Nachdem er bereits eine Strafe wegen angeblicher Vorbereitung von Hochverrat verbüßt hatte, wies ihn die Gestapo wegen des Vorwurfs einer Beziehung zu einer nichtjüdischen Deutschen („Rassenschande“) im November 1942 als Polizeihäftling in das KZ Buchenwald ein. Von dort wurde er im Januar 1943 in das KZ Auschwitz überstellt. Mit dessen Räumung gelangte er Ende Januar 1945 in das KZ Mauthausen. Dort befreite ihn im Mai 1945 die Rote Armee. Sein weiteres Schicksal wie auch das Schicksal seiner Mutter Agnes Richter ist nicht bekannt.



Effektenkarte des KZ Buchenwald von Hans Richter, 15. November 1942. Auf der Karteikarte wurde das Eigentum vermerkt, das der Gefangene bei der Einlieferung ins KZ abgeben musste. (Arolsen Archives)



Karteikarte des KZ Buchenwald für Hans Richter, 15. November 1942. Als Haftgrund ist angegeben: „Verkehr mit einer deutschen Frau“. Vorher war Hans Richter bereits wegen „Beihilfe zur Vorbereitung hochverräterischer Tätigkeit“ verurteilt worden. (Arolsen Archives)

Exkurs: Konzentrationslager in Ellrich

1944/45 richtete die SS zwei Außenlager des KZ Mittelbau-Dora in Ellrich ein: ein Lager am Bahnhof (Ellrich-Juliushütte, Tarnbezeichnung „Erich“) und ein zweites in der Gaststätte Bürgergarten nahe dem Schwanenteich in der Salzstraße (SS-Baubrigade IV). 


Das Lager Ellrich-Juliushütte wurde Anfang Mai 1944 in Gebäuden stillgelegter Gipsfabriken am Ellricher Bahnhof eingerichtet und Anfang April 1945 geräumt. Mit durchschnittlich 8000 Häftlingen war es das zweitgrößte Lager des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora. Im Juni 1944 brachte die SS mehr als 500 ungarische Juden aus Auschwitz in das Lager; im Januar und Februar 1945 kamen mit Räumungstransporten aus Auschwitz und Groß-Rosen weitere jüdische Häftlinge hinzu. Etwa 4000 Häftlinge überlebten die Deportation nach Ellrich-Juliushütte nicht, darunter mehrere Hundert Juden. Ihre Leichen wurden bis Ende Februar 1945 im Krematorium des Hauptlagers Dora eingeäschert, danach in einem neu errichteten Krematorium und auch auf Scheiterhaufen im Lager Ellrich-Juliushütte.


Im Lager Ellrich-Bürgergarten, das vom 17. Mai 1944 bis zum 10. April 1945 bestand, waren insgesamt etwa 950 Häftlinge inhaftiert, darunter auch einige wenige jüdische Gefangene. Die Todesrate in dem Lager war deutlich niedriger als in Ellrich-Juliushütte.



KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte: Blick auf einen als Unterkunftsblock genutzten Lagerraum einer ehemaligen Gipsfabrik; im Hintergrund rechts das Krematorium, nach 1945. (KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Justizielle Ahndung

Die Zerstörung der Synagoge und der Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Einwohner:innen von Ellrich sowie deren Misshandlung und Verschleppung in Gefängnisse und das KZ Buchenwald wurde nach 1945 vermutlich strafrechtlich nicht geahndet.

Spuren und Gedenken

Das Vorderhaus der 1938 zerstörten Synagoge in der Jüdenstraße 25 wurde im Januar 2023 wegen Baufälligkeit abgetragen. Seither klafft dort eine Baulücke. Einen Hinweis auf die Vergangenheit der Synagoge gibt es bislang nicht.



Abriss des Vorderhauses der ehemaligen Synagoge, 18. Januar 2023. (Foto: Hans-Peter Blum, Thüringer Allgemeine, Nordhausen)



Standort der ehemaligen Synagoge in der Jüdenstraße 25, 15. Mai 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)


 


Vor den Wohnhäusern der Familien Bernstein (Lindenstraße 1), Ballin (Große Bahnhofstraße 4) und Richter (Große Bahnhofstraße 13) wurden 2015 im Rahmen eines gemeinsamen Projektes der Oberschule Ellrich und des Familienvereins Ellrich acht sog. Stolpersteine verlegt.


Der jüdische Friedhof in der Karlstraße am Ortsausgang Richtung Walkenried wurde während der NS-Herrschaft nicht zerstört. 75 Grabstellen blieben erhalten; der jüngste Grabstein stammt von 1915. Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht wurde 1988 an der Friedhofsmauer eine Gedenktafel angebracht.



1988 an der Mauer des jüdischen Friedhofs angebrachte Gedenktafel für die jüdische Gemeinde, Mai 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)



Jüdischer Friedhof, Mai 2023. (Foto: Jens-Christian Wagner)



1915 errichteter Grabstein von Rudolf Baumgarten, Mai 2023. Es handelt sich um den jüngsten Grabstein auf dem jüdischen Friedhof. (Foto: Jens-Christian Wagner)

(Kopie 1)

Quellen und Literatur

Drechsler, Helmuth: Die Geschichte der Ellricher Juden von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen, Heft 8/1983, S. 43-51.

Kuhlbrodt, Peter: Die Synagoge in Ellrich, in: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen", Heft 9/1984, S. 72-77.

Ders.: Das Alte Ellrich. Geschichte einer Südharzstadt, Nordhausen 2000.

Wischnitzer-Bernstein, Rahel: Die Synagoge in Ellrich am Südharz, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Jg. 83 (N. F. 47) (Januar/Dezember 1939), S. 493-450.

Wagner, Jens-Christian: Ellrich 1944/45. Konzentrationslager und Zwangsarbeit in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2009.

Links

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Ortseintrag zu Ellrich: https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/557-ellrich-thueringen

Alemannia Judaica, Ortseintrag zu Ellrich: https://www.alemannia-judaica.de/ellrich_synagoge.htm

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Autor: Jens-Christian Wagner, Friedrich-Schiller-Universität Jena