Hinweis: Um die korrekte Darstellung der Seite zu erhalten, müssen Sie beim Drucken die Hintergrundgrafiken erlauben.

Vorgeschichte

Verlässliche Quellen über Jüdinnen und Juden in Ilmenau sind erst ab 1500 zu finden. In dieser Zeit gehörte Ilmenau in das Herrschaftsgebiet der Grafen von Henneberg (ab 1343). Die Grafen Wilhelm und Georg Ernst von Henneberg stellten Jüdinnen und Juden in ihrer Grafschaft 1543 einen Schutzbrief aus, der ihnen gegen Schutzgeldzahlungen das Recht gab, sich in der Grafschaft anzusiedeln. Der Stadtrat von Ilmenau war demgegenüber ablehnend eingestellt und schrieb 1543 eine Bitte an die Grafen von Henneberg, in der es heißt, „dass er die Stadt mit der Unterbringung von Juden verschonen möchte“. 1555 wurden die Schutzbriefe für Jüdinnen und Juden nicht mehr verlängert, was bis 1566 zu ihrer vollständigen Ausweisung führte. 


Vermutlich siedelten sich erst im 19. Jahrhundert in Ilmenau wieder jüdische Familien an. Seit dem Wiener Kongress von 1815 gehörte Ilmenau zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, dessen Großherzog Carl August am 20. Juni 1823 eine „Judenordnung“ erließ, in welcher er alle jüdischen Bewohner:innen rechtlich gleichstellte. Der erste Quellennachweis einer jüdischen Niederlassung in Ilmenau zu dieser Zeit stammt von 1875 und betrifft den Uhrmacher Gustav Grünthal. 


In Urkunden von 1880 werden acht jüdische Gemeindemitglieder erwähnt.  Zur Ausübung ihrer Religion errichteten jüdische Familien zu Beginn der 1890er Jahren im Hintergebäude des Wohnhauses in der Burggasse 4 einen Gebetsraum. Dieser Raum hatte Platz für 40 bis 50 Personen und bestand aus zwei Zimmern. Über einen Zeitraum von 44 Jahren war die Burggasse 4 das Zentrum des jüdischen Gemeindelebens in der Stadt. 



Burggasse, ca. 1900. (Stadtarchiv Ilmenau, Sig: E3-48)


Die jüdische Gemeinde nannte sich selbst „Jüdische Religionsvereinigung e.V." und gehörte zum Landesrabbinat Sachsen-Weimar-Eisenach, das seinen Sitz in Eisenach hatte. Wenn auch es sich um eine kleine Gemeinde handelte, war diese aktiv: Ein Lehrer aus Arnstadt unterrichtete in den Jahren 1931/32 vier jüdische Kinder im Religionsunterricht. Als Gemeindevorsteher waren in den 1920er und 1930er Jahren die Kaufleute Siegmund Eichenbronner, Max Gabbe und Samuel Gronner tätig.  



Berliner Warenhaus Gabbe, 1923. (Stadtarchiv Ilmenau, Sig: E3, 110)


In der Betstube der Gemeinde wurden offenbar zwei Thora-Rollen aufbewahrt, die mit prächtigen Silberschilden geschmückt waren. Jede dieser Rollen wurde von einem Jad begleitet, einer silbernen Nachbildung einer Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, die als Lesehilfe diente. Diese kostbaren Schriftrollen wurden im Thora-Schrein aufbewahrt. Die Verstorbenen der Gemeinde wurden auf dem jüdischen Friedhof in Plaue beerdigt.


1933 lebten 80 bis 90 jüdische Personen in Ilmenau. Es gab sowohl jüdische Kaufhäuser als auch einen jüdischen Arzt, Tierarzt und Rechtsanwalt. Zu den ersten angeordneten Boykotten im Frühjahr 1933 ist wenig überliefert. Zeitzeug:innen berichteten von Schmierereien durch NSDAP-Anhänger:innen vor jüdischen Geschäften. So berichtete John Gronner 2003, sein Vater Samuel Gronner sei von Nationalsozialisten unter Gewaltanwendung gezwungen worden, einen Schriftzug vor seinem Kaufhaus von der Straße zu entfernen. 


Bald wurde aktiv antisemitische Propaganda in Ilmenau verbreitet, etwa in Form eines Hetz-Flugblatt mit einem „Ilmenauer Judenspiegel“, der die Adressen aller jüdischen Geschäfte auflistete, die boykottiert werden sollten.



Antisemitisches Flugblatt aus Ilmenau, ca. 1934/35 (Stadtarchiv Ilmenau)


Viele Ilmenauer Bürger:innen folgten der Boykottaufforderung nicht und gingen trotzdem weiterhin in jüdischen Geschäften einkaufen. Meist betraten sie die Räume durch die Hintertüren. Die Nationalsozialisten vor Ort fingen daraufhin an, diese „Judenfreunde" zu fotografieren, um sie einzuschüchtern. Eine besondere Rolle spielten dabei die Schüler der 1936 gegründeten Reichsfinanzschule, in der Finanzbeamte fortgebildet wurden. Egon Vogt, ein Ingenieur aus Ilmenau mit einem Installationsgeschäft neben einem jüdischen Kaufhaus, beschwerte sich im September 1938 schriftlich bei der Polizei: „Seit mehreren Tagen unternehmen die Finanzschüler Aktionen gegen den Juden, indem sie die Kunden des Berliner Warenhauses fotografieren und Reklame machen für das Nichtbetreten des jüdischen Geschäftes. Auch vor meiner Haustür stellte sich heute abermals ein Finanzschüler mit Fotoapparat auf und fotografierte alles, was zu mir ins Geschäft wollte.“(Stadtarchiv Ilmenau, 201709, B 2). Der Finanzschüler Georg Kuschniersch, welcher am Ende eine Verwarnung von der Polizei erhielt, berichtete, dass ihm Bürgermeister Richard Walter die Erlaubnis für das Fotografieren jüdischer Geschäfte ausgestellt habe.  


Wegen des sogenannten „Juden-Boykotts“ und der Repressalien, die viele Jüdinnen und Juden zu ertragen hatten, verließen bis 1938 um die 60 Jüdinnen und Juden Ilmenau und wanderten in die USA, nach Südamerika oder Palästina aus.  

Die Ereignisse im November 1938

In Ilmenau begann der Pogrom offenbar erst am Nachmittag des 10. November. Nationalsozialisten, darunter Lehrgangsteilnehmer der Reichsfinanzschule, schändeten und plünderten den Betsaal, verwüsteten jüdische Geschäfte und verbrannten Besitztümer von Jüdinnen und Juden öffentlich. Die Polizei nahm sechs jüdische Männer in „Schutzhaft“ und deportierte zwei von ihnen, Jakob Münz und Samuel Gronner, in das Konzentrationslager Buchenwald.


Manfred Steinmetz aus Ilmenau berichtete 1988 über die Ereignisse wie folgt: 


„Ich erinnere mich, dass die Schaufenster der jüdischen Geschäfte beschmiert wurden und dass die SA-Männer die jüdischen Männer zum Teil aus ihren Wohnungen holten […]. Außerdem wurde der Betsaal in der Burggasse geplündert, die Gebetsmäntel im Triumph wie Fahnen durch die Stadt geführt und vor allem die silbernen Altargeräte und Thorarollen mitgenommen. Das Volk sah zu, zum Teil entsetzt, andere gleichgültig, andere verängstigt“.


(Entnommen aus: Hofert, Spurensuche- Fragmentarisches zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde Ilmenau, S.145)


Ihren Ausgang nahmen die Pogrome mit einer Demonstration von über 1000 Ausbildern und Lehrgangsteilnehmern der Reichsfinanzschule vor dem Berliner Warenhaus, das der jüdischen Familie Gabbe gehörte. In einem beschönigenden Bericht der Oberstaatsanwaltschaft Gotha vom 10. November 1938 heißt es:


„Am 10.11.1938 nachmittags demonstrierten die Angehörigen der Reichsfinanzschule in Ilmenau gegen die Juden. Dabei wurden 6 Juden männlichen Geschlechts von den Demonstranten in Schutzhaft genommen und der Polizei übergeben. Zwei davon sollen durch die NSDAP nach ‚Buchenwald‘ gebracht werden. Vier werden wieder entlassen. Um die gleiche Zeit wurde in Ilmenau der jüdische Betsaal erbrochen, das Inventar herausgeschafft und auf dem Markt verbrannt. Um weitere Gewalttätigkeiten in Ilmenau zu verhüten, schloß der Erste Bürgermeister und Hoheitsträger der NSDAP das ‚Berliner Warenhaus‘, das noch als einziges offenes Geschäft einen jüdischen Eigentümer hat. Die Rölladen [sic] wurden herabgelassen. Soweit das nicht möglich war, wurden die Schaufenster mit Kalkfarbe überstrichen. Das Geschäft soll übrigens in arischen Besitz übergehen“.


(Schreiben Oberstaatsanwaltschaft Gotha an den Generalstaatsanwalt in Jena, 10. 11.1038, Thür. Hauptstaatsarchiv Weimar)


Die Ilmenauer Tageszeitung „Die Henne“ berichtete am 11. November 1938 über die Pogrome, die sie – wie auch die überregionale NS-Presse – als „Protestaktionen“ rechtfertigte und verharmloste: 


„Aufgewühlte Volksseele. Protestaktion gegen die Juden in Ilmenau.


Nur die Weihestimmung des 9. November bannte zunächst die brodelnde Empörung, die sich dann aber, als dieser Gedenktag in den Schoß der Ewigkeit eingegangen war, in unaufhaltsamen Protestaktionen gegen die Artgenossen des blutigen Mörders Luft verschaffte. Im ganzen Reich gab es nur einen Ausdruck: Vergeltung! ... Auch Ilmenau, wo die Juden bisher ungeschoren und frei lebten, wo man ihnen sonst gar keine Beachtung schenkte, wurde in den Mittagstunden des Donnerstags zu einem brodelnden Hexenkessel. Eine gewaltige Menschenmenge sammelte sich vor dem Berliner Warenhaus und gab ihrer Einstellung in Sprechchören Ausdruck. Das Geschäftshaus mußte geschlossen werden. Die Schaufenster und später auch die Aushängekästen wurden geräumt. Zu Übergriffen kam es aber nicht, weil Kreisabschnittsleiter und Erster Bürgermeister Walther mit seinem Einfluß die Empörung der Menge einzudämmen vermochte, nachdem er das Haus geschlossen hatte. Die Demonstration dauerte mehrere Stunden. Erst abends trat Beruhigung ein. ...“ 


Folgen

Jakob Münz und Samuel Gronner wurden nach einigen Wochen wieder aus dem KZ Buchenwald entlassen. 


Wie in anderen Gemeinden mussten die noch in Ilmenau lebenden Jüdinnen und Juden bald in sogenannte Judenhäuser ziehen. Höchstwahrscheinlich wurde der Betsaal im Hinterhaus der Burggasse 4 als ein solches Haus genutzt. Auf der Deportationsliste vom 10. Mai 1942 werden folgende Straßen als letzte Wohnadressen der Deportierten angegeben: Goethestraße 11, Schleusinger Straße 12, Mühlgraben 28, Schloßstraße 6 und Schwanitzstraße 7.


Ab 1942 wurden die letzten noch in Ilmenau lebenden Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lager deportiert. Am 10. Mai 1942 ließ die Gestapo 14 jüdische Einwohner:innen über Weimar in das Ghetto Bełżyce bei Lublin im besetzten Polen verschleppen. Vermutlich hat keine:r von ihnen überlebt.



Liste der aus Ilmenau in das Ghetto Bełżyce deportierten Jüdinnen und Juden, 10. Mai 1942. (Arolsen Archives)


Am 20. September 1942 wurden mit Sally Gabbe, Mathilde Eichenbronner und Franziska Alban drei jüdische Frauen aus Ilmenau ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Die beiden Erstgenannten überlebten das Ghetto nicht. Die letzten beiden jüdischen Einwohnerinnen, Clara Steinmetz und Marie Naumann, wurden 1943 bzw. 1944 deportiert. Beide waren mit deutschen Männern verheiratet, weshalb sie zunächst vor Deportationen geschützt gewesen waren. Marie Naumann (geb. Eichenbronner) wurde im Juli 1943 verhaftet und in das KZ Auschwitz deportiert. Dort starb sie am 2. Januar 1944. Clara Steinmetz wurde vermutlich 1944 in das Ghetto Theresienstadt deportiert.


Etliche Ilmenauer Jüdinnen und Juden waren vor den Deportationen in größere Städte verzogen oder ins Ausland emigriert. Doch auch von ihnen wurden viele Opfer der Shoah, so etwa Walter Israel, dem es Ende der 1930er gelungen war, von Ilmenau nach Frankreich zu fliehen. Doch dort fiel er später in die Hände der Gestapo. Im Dezember 1943 ließ sie ihn über das Lager Drancy nach Auschwitz deportieren. Dort verliert sich seine Spur.


Nur sehr wenige Ilmenauer Jüdinnen und Juden überlebten die Shoah. Bekannt ist, dass Franziska Alban, geb. Ortenberger nach der Befreiung aus Theresienstadt zurück nach Ilmenau ging und dort 1948 starb. Sie wohnte bis zu ihrem Tod in der Poststraße 12. 

Biografien

Mathilde Eichenbronner (geb. Ortenberger)


Mathilde Ortenberger wurde 1874 im Kreis Friedberg in Hessen geboren. 1901 zog ihre Familie nach Ilmenau. Ihr Bruder Dr. Julius Ortenberger führte den dortigen Schlachthof. Mathilde Ortenberger heiratete David Eichenbronner, der gemeinsam mit seinem Bruder Sigmund das gleichnamige Kaufhaus in Ilmenau in der Lindenstraße (heute Straße des Friedens) führte. Sigmund Eichenbronner war zudem Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Ilmenau. „Der kleine Herr D“, wie David Eichenbronner häufig genannt wurde, und Mathilde Eichenbronner hatten drei gemeinsame Kinder: Marie, Stefan und Lotte. Stefan war Rennfahrer. Er emigrierte nach Frankreich. Er wurde dort 1943 verhaftet und in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dort wurde er nur wenige Monate später ermordet. Über die Tochter Lotte ist nichts bekannt. Ihr Name ist auf keiner Deportationslisten zu finden. Marie Naumann heiratete in Ilmenau den deutschen Kaufmann Herbert Herman Rudolf Naumann. 



David und Mathilde Eichenbronner, 1930er Jahre.  (Sammlung Gerlinde Hofert) 


Durch den Suizid ihres Mannes 1934 wurde Mathilde Witwe. Sigmund, nach dem Tod von David alleiniger Eigentümer des Geschäftes, verkaufte dieses 1939 an die Familie Volkmar. Aufgrund einer Krankheit starb er 1941. 


Am 15. September 1941 wurden Mathilde Eichenbronner und ihre Schwägerin Mathilde Eichenbronner (geb. Weser) in Ilmenau verhaftet und in das Polizeigefängnis Ilmenau gebracht. Die Gestapo beschuldigte sie, „Kartoffeln und Obst in größerer Menge gehamstert“ zu haben.  



Überstellungsschreiben der Stapostelle Weimar an das Arbeitserziehungslager Breitenau, 17. September 1941. (Archiv des LWV-Hessen)


Wenige Tage später, am 20. September 1941, wies die Gestapo die beiden Frauen in das Arbeitserziehungslager Breitenau bei Guxhagen (Hessen) ein. Nach einer sechswöchigen Haftstrafe kamen sie zurück nach Ilmenau. Ein Jahr später wurde Mathilde zusammen mit Franziska Alban (geb. Ortenberger) und Sally Gabbe in das Ghetto Theresienstadt gebracht. Mathilde Eichenbronner starb dort am 17. Oktober 1943. Ihre Tochter Marie Naumann, die mit einem nichtjüdischen Mann verheiratet gewesen war, starb Anfang 1944 in Auschwitz. Deren Sohn Peter Naumann überlebte als „Halbjude“ die Shoah und wanderte in den 1950er Jahren nach Brasilien aus.


2007 wurde für die Familie Eichenbronner am ehemaligen Geschäft in der Friedenstraße in Ilmenau eine Gedenktafel angebracht. Bei der Einweihung war Peter Naumann vor Ort.



Gedenktafel für die Familie Eichenbronner in der Straße des Friedens in Ilmenau, 2007. (https://www.alt-ilmenau.de/Eichenbronner.htm)


Samuel Gronner 



Samuel Gronner und sein Sohn Rudi (links) bei einem Besuch des jüngeren Sohnes Jochen (John) in Palästina, 1938 (Sammlung John Gronner, https://www.lbi.org/de/events/loss-legacy/)


Samuel Gronner wurde 1885 in Haslach in Schlesien geboren. 1910 zog er nach Ilmenau. Dort traf Samuel auf Wilhelm Sandler, welcher zuvor in Coburg ein Kleidungsgeschäft eröffnet hatte, und plante, nach Ilmenau zu expandieren. Er ließ ein Geschäft in der Friedrich-Hoffmann-Straße 7 im Bauhaus-Stil errichten. Samuel wurde zum Geschäftsführer ernannt und durch die Heirat mit Helene Sandler wurden die Sandlers und die Gronners zu einer Familie. Samuel und Helene bekamen zwei Söhne: Rudi und Jochen (John) Gronner.  



Helene Gronner und ihr Sohn Rudi, um 1916. (Stadtarchiv Ilmenau)


Rudi Gronner ging 1933, im Alter von 21 Jahren, nach Frankreich und absolvierte dort ein Jurastudium. Sein Bruder Jochen wurde Mitte der 1930er Jahre gezwungen, die Schule in Ilmenau zu verlassen. Er wanderte nach Palästina aus und absolvierte dort eine Ausbildung zum Ingenieur. 


Die beiden Eltern blieben in Ilmenau zurück. Im August 1938 mussten sie ihr Geschäft im Rahmen der „Arisierung“ verkaufen. Das NSDAP-Mitglied Hilmar Näder übernahm das Geschäft zu einem Preis weit unter Wert.


Während der Novemberpogrome wurde Samuel Gronner verhaftet und zusammen mit Jakob Münz nach Buchenwald gebracht deportiert. Im Dezember 1938 konnten beide nach Ilmenau zurückkehren. Anschließend plante das Ehepaar Gronner erfolglos, in die USA oder nach Chile auszuwandern. Im November 1941 wurde Samuel Gronner wegen des Vorwurfs, mit einem Polen über den Krieg gesprochen zu haben, erneut verhaftet und als „Polizeihäftling“ in das KZ Buchenwald gebracht. Im Januar 1942 entließ ihn die SS wieder. 



Karteikarte des KZ Buchenwald für Samuel Gronner, 1941/42. (Arolsen Archives)


Vier Monate später, am 10. Mai 1942, wurden Samuel und Helene Gronner mit 12 weiteren Ilmenauer Juden in das Ghetto Bełżyce deportiert. Dort verlieren sich die Spuren der beiden. 


Währenddessen beendete Jochen (nun John) Gronner in Palästina seine Ausbildung zum Ingenieur und arbeitete für die britische Armee. In den 1950er Jahren zog er für zwei Jahre nach Frankfurt und wanderte anschließend mit seiner Familie in die USA aus. 1990 kehrte John Gronner nach Ilmenau zurück, um die Stadt zu besuchen und sein Eigentum, das ehemalige Geschäft, zurückzuverlangen. Nach Angabe seines Sohnes Sam Gronner war die Stadtverwaltung in Ilmenau froh, dass er kein Geld wollte, und übertrug ihm bereitwillig das Geschäftshaus in der Friedrich-Hoffmann-Straße. John Gronner entschied gemeinsam mit seiner Familie, das Geschäft an den Bekleidungskonzern New Yorker zu verkaufen, der bis heute im ehemaligen Geschäft „Wilhelm Sandler“ eine Filiale betreibt.



Ehemaliges Kaufhaus Wilhelm Sandler, nun eine New-Yorker- Filiale, 2023. (Foto: Tatjana Varnhold)


 

Exkurs: Reichsfinanzschule Ilmenau

Die Reichsfinanzschüler spielten bei der Judenverfolgung in Ilmenau eine ausschlaggebende Rolle. Die Reichsfinanzschulen waren ein Teil der Reichsfinanzverwaltung und somit dem Reichsfinanzministerium (RFM) unterstellt. Sie dienten der Aus- und Weiterbildung des Personals der Finanzverwaltung. Ihre Gründung wurde von RFM-Staatssekretär Fritz Reinhardt betrieben, der aus Ilmenau stammte. Die Reichsfinanzschule Ilmenau wurde Anfang Mai 1936 im Gebäude des ehemaligen Technikums in Ilmenau eröffnet. 



Staatssekretär Fritz Reinhardt spricht bei der Eröffnung der Reichsfinanzschule Ilmenau, 4. Mai 1936. (Stadtarchiv Ilmenau)


Alle inhaltlichen Fragen, wie bspw. der Unterrichtsstoff und der Lehrplan sowie die Auswahl des Lehrpersonals, unterstanden Reinhardt persönlich. Es wurden finanznahe Fächer, wie Buchprüfung und Kassenwesen, unterrichtet. Aber auch das Fach ‚Nationalsozialismus’ war Teil der Leistungsbeurteilung. Die Gesamtdauer der Ausbildung zum Finanzbeamten betrug 19 Monate. Innerhalb dieser Zeit erhielten die Anwärter jedoch nur fünf Monate theoretischen Unterricht an den Reichsfinanzschulen, während sie 14 Monate lang eine praktische Ausbildung in den Finanzämtern absolvierten. Die Reichsfinanzschulen hatten von Anfang an eine ideologische und militärische Ausrichtung. Sie vermittelten nicht nur Fachwissen und Weltanschauung, sondern dienten auch der Vorbereitung auf den Krieg und der körperlichen Ertüchtigung. Alle Beschäftigten und Auszubildenden der Reichsfinanzschulen waren SA-Mitglieder. Reinhardt selbst war Obergruppenführer der SA. 


Wegen des Krieges wurde die Ausbildung in Ilmenau zu Beginn des Jahres 1943 eingestellt. Im Mai 1946 erfolgte am bisherigen Standort unter der Bezeichnung „Schule der deutschen Finanzverwaltung in der sowjetischen Zone“ die Neugründung. 1952 wurde diese Bildungsstätte nach Gotha verlegt und fungierte dort als zentrale Ausbildungsstätte für Finanzwirtschaft, welche später den Namen „Fachschule für Finanzen der DDR“ erhielt.


Heute erinnert eine Gedenktafel am „Alten Technikum“ in Ilmenau an die Reichsfinanzschule. 



Gedenktafel am „Alten Technikum", 1998. https://www.alt-ilmenau.de/Technikum.htm

Justizielle Ahndung

Es ist nicht bekannt, dass Lehrer oder Auszubildende der Reichsfinanzschule, die sich maßgeblich am Novemberpogrom 1939 beteiligt hatten, nach 1945 juristisch dafür zur Verantwortung gezogen wurden. 


Eine führende Rolle bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Ilmenau spielte Bürgermeister Richard Walther, geboren 1888 in Calzendorf (heutiges Sachsen-Anhalt).



Bürgermeister Walther bei seiner Amtseinführung, 1933. (Stadtarchiv Ilmenau)


Als Richard Walther im Mai 1945 gezwungen war, den US-Soldaten den Einmarsch zu gewähren, nahmen diese ihn fest und brachten ihn in das Internierungslager „Untere Rheinstraße“ in Darmstadt. Dort musste er sich 1948 einem Spruchkammerverfahren stellen. Beschuldigt wurde er u.a., an der Erschießung von acht Ausländern beteiligt gewesen zu sein. Seine Beteiligung an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung spielte in dem Verfahren offenbar keine Rolle. Aufgrund einer Reihe entlastender Aussagen, u.a. durch einen Angehörigen des Arnstädter CDU-Kreisverbandes und durch den ehemaligen Polizeichef Weiss, verurteilte ihn das Gericht lediglich zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Zudem stufte es ihn als „minderbelastet“ ein. Walther blieb nach seiner Freilassung in Hessen und starb 1980 in Oberursel.


 

Spuren und Gedenken

Das Gebäude des ehemaligen Betsaales in der Burggasse wurde nach 1945 als Wohngebäude benutzt und 1987/88 wegen Baufälligkeit abgerissen. Das Vorderhaus wird bis heute als Wohngebäude genutzt. 



Vorderhaus der Burggasse 4, 2023. (Foto: Tatjana Varnhold)


Über das öffentliche Gedenken an das Schicksal der im NS verfolgten Ilmenauer Jüdinnen und Juden ist aus der Zeit der DDR nichts bekannt. Die erste öffentliche Gedenkveranstaltung fand 1993 statt. Bei dieser wurde eine Gedenktafel am ehemaligen Kaufhaus Wilhelm Sandler in der Friedrich-Hoffmann-Straße mit der Aufschrift angebracht: „Dieses Geschäftsgebäude wurde im Jahre 1929 von Samuel und Helene Gronner an der Stelle des ehemaligen Pfarramts Ilmenau erbaut. Das nationalsozialistische Gewaltregime deportierte beide am 5. Mai 1942 nach dem Osten in den sicheren Tod. Diese Tafel dient ihrer Erinnerung und als stete Mahnung an kommende Geschlechter zur menschlichen, gegenseitigen Toleranz. Datum der Weihung: Juli 1993.“  Die Initiative ging von John Gronner aus, dem Sohn von Helena und Samuel Gronner. 



1993 angebrachte Gedenktafel am ehemaligen Kaufhaus Wilhelm Sandler, 2023. (Foto: Tatjana Varnhold)


2002 wurde in der Nähe der „Alten Försterei“, der heutigen Stadtgalerie am Wetzlarer Platz, ein Gedenkstein mit dem Schriftzug: „Den Ilmenauer Opfern des Nationalsozialismus“ eingeweiht. Dieser wurde 2007 durch das Abreißen von 18 Buchstaben stark beschädigt. Die Täter sowie Tatmotive blieben unbekannt. 


Im Mai 2007 fand die erste Stolpersteinverlegung in Ilmenau statt. Mit der geplanten Verlegung ging eine intensive Beschäftigung mit den jüdischen Schicksalen in Ilmenau durch Dr. Juliane Rauprich, Ute Bach, Wilhelm Bekos und Bernd Frankenberger einher. Aber auch das vor Ort ansässige Goethegymnasium half bei der Aufarbeitung der Geschichte. Die ersten Stolpersteine wurden der Familie Eichenbronner gewidmet: Drei Steine wurden in der Naumannstraße verlegt, vier in der Straße des Friedens 23 vor dem ehemaligen Eichenbronner‘schen Kaufhaus. Dort wurde am 6. Juni desselben Jahres auch eine Gedenktafel angebracht: „Zum Gedenken an die Brüder David und Sigmund Eichenbronner, die dieses Geschäft 2007 erbauten. Die gesamte Familie Eichenbronner fiel dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer“. An dieser Einweihung nahm der in Brasilien lebende Enkel Peter Naumannteil.


Die zweite Verlegung fand am 6. Mai 2008 für neun weitere verschleppte und getötete jüdische Einwohner:innen von Ilmenau statt. 



Stolpersteine für Helene und Samuel Gronner sowie Wilhelm Sandler vor dem ehemaligen Bekleidungsgeschäft Wilhelm Sandler, 2023 (Foto: Tatjana Varnhold)

(Kopie 1)

Quellen und Literatur

Hofert, Gerlinde: Spurensuche. Fragmentarisches zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Ilmenau. In: Leisner, Silke (Hrsg.), Ilmenau. Beiträge zur Geschichte einer Stadt, Ilmenau/Hildburghausen 1998, S.139-148. 

Rauprich, Juliane: Erinnerung an die Juden der Stadt Ilmenau. In: Nothnagel, Hans (Hrsg.), Über jüdisches Leben im mittleren Werra- und Rennsteiggebiet (Juden in Südthüringen – geschützt und gejagt; 6), Suhl 1999, S. 194-227. 

Borsdorf, Rainer, Frankenberger, Bernd, Macholdt, Christoph: Jüdische Nachbarn in Ilmenau, Verlag Kern, Ilmenau 2018. 

Borsdorf, Reiner: Licht und Schatten. Ilmenau und St. Jakob ein Stück Zeitgeschichte. Ilmenau 2013. 

­


Autorin: Tatjana Varnhold, Studentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena