Hinweis: Um die korrekte Darstellung der Seite zu erhalten, müssen Sie beim Drucken die Hintergrundgrafiken erlauben.

Vorgeschichte

Jüdinnen und Juden waren vermutlich bereits zu Beginn der städtischen Siedlungen Nordhausens am Ende des 10. Jahrhunderts ein Teil der Bevölkerung. So alt wie die Geschichte jüdischen Lebens in der Stadt ist auch die Geschichte ihrer Ausgrenzung und Verfolgung. Als sich 1348 eine Pestepidemie in Thüringen ausbreitete, ereigneten sich in vielen Städten Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Überlieferungen zufolge wurden 1349 alle Angehörigen der jüdischen Gemeinde Nordhausens in der Nähe des nach diesem Ereignis benannten „Judenturms“ auf einem Scheiterhaufen verbrannt.



Der „Judenturm“ auf dem Petersberg als Teil der ehemaligen Stadtmauer, Juni 2023. (Foto: Jenny Kretzmann)


Trotz der fortwährenden Ungleichbehandlung und zeitweisen Verfolgung gab es bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde in Nordhausen. 1551 jedoch setzte der Rat der freien Reichsstadt durch, dass es Jüdinnen und Juden nicht mehr gestattet war, dort zu leben. Erst etwa 240 Jahre später entstand eine neue jüdische Gemeinde, nachdem Nordhausen unter die westfälische Herrschaft Jerome Bonapartes gefallen war. Durch die Gesetzgebung nach französischem Vorbild konnte im Jahr 1808 die rechtliche Gleichstellung von Jüdinnen und Juden durchgesetzt werden.


Die jüdische Gemeinde Nordhausens war seit den 1880er Jahren Teil einer Reformbewegung und passte sich der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft an. In der Stadt gab es in dieser Zeit 34 jüdische Geschäfte und Betriebe mit 671 jüdischen Mitarbeitenden.


Durch Pogrome und Hungersnöte in Osteuropa kamen am Anfang des 20. Jh. Jüdinnen und Juden aus Polen und Osteuropa nach Nordhausen, welche als Folge von Sprachbarrieren und sozialer Ausgrenzung wenig Kontakt zu den länger in Nordhausen lebenden jüdischen Familien hatten. Überschneidungen gab es jedoch in der Synagoge, die das soziale Zentrum der Gemeinde darstellte.



Die Synagoge am Pferdemarkt 10, 1845 erbaut 1888 baulich erweitert, Foto vor dem 10.11.1938. (Foto: Unbekannt, Stadtarchiv Nordhausen)


Überlieferungen zufolge gab es bereits im Mittelalter eine Synagoge, eine Mikwe und einen jüdischen Friedhof. Nach der Entstehung einer neuen jüdischen Gemeinde 1808 wurde der noch heute existierende jüdische Friedhof ca. 1820 am Ammerberg eingerichtet. Auf dem Friedhof befindet sich das einzige Denkmal für im Ersten Weltkrieg gefallene jüdische Soldaten Thüringens.



Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Nordhäuser Juden, August 2023. (Foto: Jenny Kretzmann)



Der jüdische Friedhof am Ammerberg, August 2023. Er ist der älteste Friedhof der Stadt und enthält 477 Grabsteine. Die letzte Person wurde hier 1980 bestattet. (Foto: Samuel Drößler)


In den letzten Jahrzehnten vor der NS-Herrschaft war Nordhausen sozialdemokratisch bzw. liberal geprägt. Bei den Stadtverordnetenwahlen 1929 zog die NSDAP in Nordhausen erstmalig mit elf Prozent der Stimmen in das Stadtparlament ein. 


Bei den reichsweiten Boykottaufrufen im April 1933 belagerten auch in Nordhausen Posten von SA und SS von Jüdinnen und Juden geführte Geschäfte, Ärzt:innenpraxen und Betriebe. Ihre Verkaufsräume hielten viele Betroffene zur Sicherheit geschlossen.



Nationalsozialisten haben eine Schaufensterscheibe des Modehauses Schönbeck am Kornmarkt mit einem Boykottaufruf beschmiert, vermutlich April 1933. (Stadtarchiv Nordhausen)


In den folgenden Jahren wurden die Nordhäuser Jüdinnen und Juden immer weiter gesellschaftlich und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Viele jüdische Unternehmer:innen wurden gezwungen, ihre Betriebe und Geschäfte unter Wert an nichtjüdische Deutsche zu verkaufen.


Ende Oktober 1938 schob die Polizei 45 polnische und osteuropäische Jüdinnen und Juden aus Nordhausen nach Polen ab. Von ihnen konnten später acht Personen in die USA und nach Chile fliehen. Die übrigen Personen wurden bis auf zwei Ausnahmen nach der deutschen Besetzung Polens ermordet oder blieben verschollen.


Im Januar 1933 lebten laut den Zahlen der Zentralen Wohlfahrtsstelle für Juden in Deutschland 438 Jüdinnen und Juden in Nordhausen. Von den Nationalsozialisten wurden auf Grundlage ihrer Rassengesetze aber weitaus mehr Menschen, nämlich 525 Menschen, als Jüdinnen und Juden verfolgt. Von ihnen konnten 198 ins Ausland emigrieren, die meisten nach Palästina und in die USA.

Die Ereignisse im November 1938

Der Pogrom begann in Nordhausen am 10. November 1938 gegen 2 Uhr morgens. In Zivilbekleidung zogen Angehörige von SA und SS sowie anderer Parteiformationen aus ihren Stammkneipen zur Synagoge am Pferdemarkt. Dort brachen sie die Tür auf, überschütteten den Innenraum mit Benzin und legten ein Feuer. In einem benachbarten Gebäude fanden sie Kurt Singer, den Vertretungsrabbiner, und seinen Vater Eduard Singer. Für kurze Zeit sperrten sie Kurt Singer in die brennenden Räume ein, ließen ihn die Synagoge jedoch wieder verlassen, bevor er erstickte. Aus der Gemeindebibliothek holten die Täter Bücher und verbrannten sie. 


Die Feuerwehr rückte bald an und bereitete sich vor, den Brand zu löschen, wobei ein Streit zwischen den Hilfskräften und den SA-Leuten ausbrach. Der anwesende Nordhäuser Oberstaatsanwalt wies die Feuerwehr an, sich auf den Schutz der Nachbarhäuser zu konzentrieren und die Synagoge ausbrennen zu lassen. Das zur Synagoge gehörende benachbarte Wohnhaus blieb von den Flammen verschont; es wurde am Folgetag dem Roten Kreuz überlassen. 



Schaulustige vor der ausgebrannten Synagoge, vermutlich 10. November 1938. (Stadtarchiv Nordhausen)


Neben der Synagoge widmeten die Schlägertrupps ihre Aufmerksamkeit auch den Straßen, in welchen viele Jüdinnen und Juden wohnten oder Geschäfte besaßen. Sie zerschlugen Scheiben und warfen jüdische Besitztümer aus Fenstern. Sie plünderten die Läden, brachen Kassen auf und zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam. In privaten Wohnräumen wurden die betroffenen Personen aus ihren Betten gerissen und dazu gedrängt, sich schnell anzukleiden. Einige fuhr man in Autos durch die Straßen, um ihnen das gewaltsame Geschehen zu demonstrieren.


 


Bretterverschläge vor den zerschlagenen Schaufenstern des Mode-Geschäftes Isidor Lewin in der Rautenstraße 17, vermutlich nach der Pogromnacht 1938. Der Geschäftsinhaber Isidor Lewin starb am 19. November 1938 im KZ Buchenwald. (Stadtarchiv Nordhausen)
 




8a und 8b Bericht des Oberbürgermeisters an den Oberstaatsanwalt in Nordhausen, 11. November 1938. Der Oberbürgermeister hielt sich an die offizielle Version, wonach sich in der Pogromnach spontan antijüdischer Zorn in der Bevölkerung entladen habe. Tatsächlich waren aber vor allem in Zivil gekleidete SS- und SA-Angehörige für die Gewaltexzesse verantwortlich. (Thür. Staatsarchiv Gotha, Staatsanwaltschaft Nordhausen 61, Bl. 101)


150 Jüdinnen und Juden wurden in dieser Nacht in „Schutzhaft“ genommen und im Siechenhof, einem ehemaligen Armenhaus in der Kasseler Straße, gesammelt. Einige der Festgenommenen mussten stundenlang auf LKWs verharren. Am Morgen ließ die SA die männlichen Gefangenen zwischen 17 und 70 Jahren, es waren etwa 75 Personen, in Bussen in das KZ-Buchenwald bringen. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden freigelassen. Einige jüdische Männer wurden erst in den darauffolgenden Tagen festgenommen. Die SA inhaftierte diese im Siechenhof, da das KZ Buchenwald bereits stark überfüllt war. 


Von den nach Buchenwald verschleppten Nordhäuser Juden kamen dort sieben Männer zu Tode, unter anderem Kurt und Eduard Singer. Der Vater Eduard wurde von der Lager-SS schwer gefoltert und starb am 17. November 1938 an den Folgen, sein Sohn Kurt beging am selben Tag Suizid, nachdem er die Folter seines Vaters hatte mit ansehen müssen.



Meldung des KZ Buchenwald über den Tod von Eduard Singer, 17. November 1938. Als Todesursache gab die SS „Gehirnschlag“ an. (Arolsen Archives)



Seite 1 einer Liste der in „Schutzhaft“ genommener Juden in Nordhausen, vermutlich vom 10.11.1938 mit späteren Ergänzungen. Auf der Liste ist handschriftlich markiert, dass Hermann Bacharach, Ernst Blaut und Rudolf Gerson „verst[orben]“ seien. Blaut wurde in Buchenwald von einem SS-Mann erwürgt und die anderen beiden starben an den körperlichen Folgen der Schikane und Unterversorgung. (Stadtarchiv Nordhausen, 9.8.4.) 

Folgen

Bis Ende 1938 wurden die meisten der in das KZ Buchenwald verschleppten Nordhäuser Juden wieder entlassen. In der Zwischenzeit hatten viele auf Drängen und aus der Not heraus ihre Häuser und Geschäfte verkauft. Anschließend versuchten die meisten Nordhäuser Jüdinnen und Juden, ins Ausland zu emigrieren. Doch vielen gelang es nicht, an die begehrten und kostspieligen Visa für die Ausreise zu kommen. Teilweise gelang es auch nur einigen Familienmitgliedern, auszureisen, und die Familien wurden zerrissen. 


In den Wochen nach dem Pogrom folgten weitere Verordnungen, welche den kompletten Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben in der Stadt bewirkten. So wurde beispielsweise Anfang Dezember 1938 auf Anordnung des Oberbürgermeisters jüdischen Schüler:innen der Besuch öffentlicher Schulen verboten. Zudem wurden die Nordhäuser Jüdinnen und Juden nach dem Pogrom verpflichtet, eine „Sühnezahlung“ in Höhe von fast 1,5 Mio. Reichsmark an das Finanzamt zu leisten.



Verordnung von Oberbürgermeister Dr. Meister zum Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Leben, 6. Dezember 1938. U.a. wird jüdischen Kindern und Jugendlichen der Besuch öffentlicher Schulen untersagt. (Stadtarchiv Nordhausen, 9.8.4, Bl. 7)



Mitteilung des Rektors Wünsch der Heinrich-Mittelschule über den Ausschluss von sechs jüdischen Schülern, 15. Dezember 1938.  (Stadtarchiv Nordhausen, 9.8.4, Bl. 2)


Im September 1939 wurden die in Nordhausen verbliebenen Jüdinnen und Juden gezwungen, in Häuser der bereits nach Osten abgeschobenen jüdischen Familien bzw. in die Häuser von jüdischen Menschen, die in „Mischehen“ lebten, zu ziehen. Von diesen „Judenhäusern“ gab es mindestens 13 in der Stadt. Die meisten Jüdinnen und Juden waren im „Judenhaus“ in der Arnoldstraße 17 untergebracht.


Ab 1942 wurden alle noch in Nordhausen lebenden Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lager deportiert. Ein erster größerer Transport verließ Nordhausen am 9. Mai 1942 über Weimar in das Ghetto Bełżyce im besetzten Polen. Im September 1942 folge ein zweiter Transport mit 32 älteren Jüdinnen und Juden in das Ghetto Theresienstadt. Insgesamt wurden etwa 200 Menschen aus Nordhausen Opfer der Shoah.

Biographien

Rosa Herrmann


Rosa, auch „Rozel“ Herrmann wurde 1890 im hessischen Frielendorf als Rosa Moses geboren. In der Zeit vor der Verfolgung lebte sie in der Bahnhofstraße 19b in Nordhausen. Ihr Mann Harry Herrmann besaß ein Großhandelsgeschäft für Leinen- und Baumwollwaren, sie und ihre Familie gehörte also zum Nordhäuser Bürgertum. Rosa Herrmann arbeitete als Hausfrau und war Mutter von zwei Kindern, Kurt und Walter Herrmann.


In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde Rosa Herrmann zusammen mit ihrem Sohn Kurt Herrmann und ihrer Mutter von einem Polizisten aus ihrer Wohnung geholt und gezwungen, auf der Rückbank eines PKWs Platz zunehmen. Von dort aus wurden sie von zwei SA-Männern vorbei an zertrümmerten jüdischen Geschäften bis hin zur Synagoge gefahren. Man wollte ihnen das Ausmaß der Zerstörung jüdischen Eigentums und der brennenden Synagoge demonstrieren. Dabei sangen die Männer „Wenn Judenblut von unseren Messern rinnt“. Danach wurden sie zusammen mit anderen jüdischen Familien im Siechenhof eingepfercht, bis die Frauen und Kinder wieder freigelassen wurden. Ihre Wohnung fanden sie, was so nur in wenigen Einzelfällen vorkam, unbeschadet vor. Ihr Mann Harry Herrmann war zu diesem Zeitpunkt zu Besuch bei seiner Schwester in Leipzig. Nach seiner Rückkehr am folgenden Tag, dem 10. November, wurde auch er von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen. Jedoch hielt man ihn in einer Zelle im Rathaus gefangen, sodass er durch Rosa Herrmanns Bemühungen von einem Bekannten bei der Kriminalpolizei schon 24 Stunden nach seiner Inhaftierung freigelassen wurde.


Im folgenden Jahr wurde die Familie in das Judenhaus in der Arnoldstraße 5 zwangsumgesiedelt. Ihre beiden Söhne konnten vorher das Land verlassen und überlebten.


Von Leipzig aus wurden Rosa und ihr Ehemann am 20. September 1942 von Weimar über Halle und Leipzig nach Theresienstadt deportiert. Dort mussten sie ein Jahr und acht Monate unter entsetzlichen Umständen leben. Am 18. Mai 1944 folgte dann die weitere Deportation nach Auschwitz. Am 12. Juli 1944 wurden Rosa und Harry Herrmann dort von der SS ermordet.




Heimeinkaufvertrag zwischen Harry und Rosa Herrmann und der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, 17. September 1942. Mit Heimeinkaufverträgen mussten Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation nach Theresienstadt ihr Vermögen an die Reichsvereinigung der Juden abtreten. Diese musste das Geld an das Reich weitergeben. Angeblich sollten damit die Kosten für die „Heimunterbringung“ im Ghetto Theresienstadt gedeckt werden. Elf Tage nach Unterzeichnung des Vertrages wurden Harry und Rosa Herrmann nach Theresienstadt deportiert. (Arolsen Archives) 


2010 wurden in der Riemannstraße 3 zwei Stolpersteine für das Ehepaar Herrmann verlegt. Später wurden sie wegen Bauarbeiten entfernt und seitdem noch nicht wieder neu verlegt.


Johannes Meister: Der NS-Oberbürgermeister


Johannes Meister wurde 1892 in Dienstedt, einem kleinen Dorf südlich von Erfurt, als Sohn eines Pfarrers geboren und studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Jena. Im Ersten Weltkrieg erlangte er den Rang des Unteroffiziers, beendete danach sein Studium und wurde Hilfsrichter an verschiedenen Thüringer Gerichten. Im Dezember 1929 trat er in die NSDAP ein. Innerhalb dieser übernahm er verschiedene Führungspositionen wie die Leitung des NSDAP-Ortsgerichts der Stadt Meiningen und die Position des Staatsrats für Sondershausen. Somit war er Regierungsmitglied des Landes Thüringens. 


Nachdem er zunächst als Oberbürgermeister von Meiningen tätig war, übernahm er am 1. April 1935 dieses Amt für Nordhausen und löste damit Heinz Sting ab. 1936 erlitt Meister eine Kopfverletzung bei einem Autounfall auf einer Fahrt nach Erfurt. Dennoch blieb er in den folgenden Jahren weiterhin in seinen Ämtern aktiv und nahm an Auftritten in der Öffentlichkeit teil. Es ist davon auszugehen, dass er als aktives NSDAP-Mitglied und Bürgermeister in die Taten der Novemberpogrome involviert war. Erst 1942 wurde er als Folge seiner Verletzung vorzeitig pensioniert. 


Am 28. April 1945, nach dem Einmarsch in Nordhausen, verhafteten US-amerikanische Soldaten Johannes Meister und internierten ihn bis zum 9. April 1948 in Darmstadt und Wiesbaden. Als „Minderbelasteter“ wurde er zunächst durch die Spruchkammer Hofgeismar zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Spruchkammer Kassel stufte ihn nach Ablauf dieser Zeit nur noch als „Mitläufer“ ein. Als Meister 1949 beim hessischen Justizministerium die erneute Zulassung als Rechtsanwalt beantragte, wurde diese abgelehnt. Meister starb 1966 im hessischen Vellmar.



Joannes Meister (Mitte, redend) bei der Einweihung einer Wohnanlage der Siedlungs- und Baugenossenschaft, 1. Mai 1936. In er vorderen Reihe v.l.n.r.: NSDAP-Kreisabschnittsleiter Witzel, NSDAP-Kreisleiter Nentwig und der eine Rede haltende Oberbürgermeister Meister.  (Stadtarchiv Nordhausen) 

Justizielle Ahndung

Obwohl einige Namen von führenden Personen der Nationalsozialisten zur Zeit der Novemberpogrome 1938 bekannt sind und mehrere Augenzeugenberichte vorliegen, wurde vermutlich keiner der Nordhäuser Täter justiziell verurteilt.


Es ist lediglich bekannt, dass Johannes Meister, der 1938 amtierende Oberbürgermeister, 1948 von zwei hessischen Spruchkammern als „Minderbelasteter“ zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt und später als „Mitläufer“ eingestuft und damit entlastet wurde. Für welche Taten er zunächst belangt worden war, konnte nicht geklärt werden.

Spuren und Gedenken

An die Novemberpogrome in Nordhausen erinnert seit 1988 ein Gedenkstein am Ort der ehemaligen Synagoge, an dem jährliche Gedenkveranstaltungen stattfinden. Auch am ehemaligen Siechenhof, der heutigen Kreismusikschule, ist eine Gedenktafel angebracht, welche die Namen der in Buchenwald Ermordeten trägt.



Der Synagogengedenkstein am Pferdemarkt 10, Juli 2023. Im vorderen Bildbereich sind Stolpersteine von Eduard und Kurt Singer zu sehen. (Foto: Jenny Kretzmann)



Stolpersteine für Eduard und Kurt Singer am Standort der ehemaligen Synagoge, 2023. Beide starben im November 1938 im KZ Buchenwald. (Foto: Jenny Kretzmann)


Seit den 2000er Jahren wurden bislang 41 Stolpersteine in Nordhausen verlegt, die an ehemalige jüdische Einwohner:innen, aber auch an andere NS-Verfolgte erinnern (Stand Juni 2023). 


An der ehemaligen Boelcke-Kaserne, dem Sterbelager des KZ Mittelbau-Dora im Strohmühlenweg nahe der Zorge befindet sich ein Gedenkstein mit einer Abbildung des „Roten Winkels“. Diesen mussten im KZ politische Häftlinge tragen. Eine Tafel ergänzt den Stein und weist auf die Problematik der DDR-Erinnerungskultur hin, in der das Gedenken politischer Opfer im Vordergrund stand, wodurch die Würdigung jüdischer und anderer Verfolgter in den Hintergrund trat. Tatsächlich waren die meisten Opfer des KZ-Außenlagers in der Boelcke-Kaserne Juden.



Gedenkstein aus den 1970er Jahren für 1278 KZ-Häftlinge, die im April 1945 nach der Befreiung tot aus dem KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne geborgen und auf dem Ehrenfriedhof am Stresemannring bestattet wurden, August 2023. (Foto: Samuel Drößler)


Darüber hinaus existiert in Nordhausen ein Ehrenfriedhof neben dem Hauptfriedhof: Hier ließen US-Soldaten im April 1945 tote KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen aus der Boelcke-Kaserne in Reihengräbern begraben. Ein dreieckiger Pavillon aus Beton soll an die Opfer des KZ-Mittelbau erinnern und optisch auf den an der Kleidung der Häftlinge angebrachten Winkel verweisen. Derzeit ist eine grundlegende Umgestaltung des Ehrenfriedhofes in Arbeit; Ziel ist es u.a., die Reihengräber sichtbar zu machen.



Grabplatte von Ernest Gaillard, im Hintergrund steht der Pavillon, die Schrifttafeln sind bedeckt, August 2023. Ernest Gaillard überlebte 1945 das KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne und kehrte nach Frankreich zurück. Nach seinem Tod 1977 wurde seine Asche auf seinen Wunsch hin auf dem Ehrenfriedhof bestattet. (Foto: Samuel Drößler)

Exkurs 1: Das KZ Mittelbau-Dora

Das KZ Mittelbau-Dora entstand zum Zweck der wirtschaftlichen Ausbeutung von Häftlingen für die Kriegsindustrie. Ende August 1943 unter der Tarnbezeichnung „Dora“ als Außenlager von Buchenwald gegründet, wurde Mittelbau das letzte KZ-Hauptlager und das größte dieser Art.



Appellplatz und Lagergefängnis des ehemaligen Lagers Dora, 1946. Das Lager Dora war das Hauptlager des KZ Mittelbau. 1945/46 waren in dem ehemaligen Konzentrationslager deutsche Vertriebene aus der Tschechoslowakei untergebracht. (Foto: Franz Becker, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)



Eingang zum ehemaligen Häftlingslager Dora mit dem Appellplatz, August 2023. (Foto: Samuel Drößler)


Nach einem britischen Luftangriff auf das NS-Raketenzentrum in Peenemünde auf der Insel Usedom entschied die NS-Führung im August 1943, die Produktion der sogenannten „Aggregat 4“-Rakete (V2) in unterirdische Anlagen zu verlagern, die vor Luftangriffen geschützt waren. Die Wahl fiel auf Nordhausen, da dort bereits eine Stollenanlage im Berg „Kohnstein“ existierte und die Standortfaktoren günstig waren. Sowohl der Bau der Betriebsstätten als auch die Produktion der Raketen sollte von KZ-Häftlingen erledigt werden. Die ersten Häftlinge wurden am 28. August 1943 zum Kohnstein gebracht. Bis Dezember 1943 stieg die Zahl der Häftlinge auf 10.500 an. Bis zum Frühjahr 1944 waren sie unter Tage in notdürftig eingerichteten „Schlafstollen“ untergebracht. Die Existenzbedingungen dort waren katastrophal. Krankheiten breiteten sich aus und nach wenigen Wochen waren die meisten Häftlinge völlig ausgezehrt. Hinzu kamen ständige körperliche und psychische Misshandlungen. Fast die Hälfte der Gefangenen überlebte die ersten Monate in „Dora“ nicht.



Eine Querkammer der ehemaligen unterirdischen Raketenfabrik im Kohnstein, August 2023. Die hier zu sehende Kammer diente von September 1943 bis zum Frühjahr 1944 als „Schlafstollen“ für die hier untergebrachten KZ-Häftlinge. Anschließend wurde die Kammer zur Produktionsstätte für V1-Flugbomben umgebaut. 1947 sprengte die sowjetische Besatzungsmacht die Stolleneingänge. Von der V1-Produktion und der anschließenden Sprengung zeugen Raketenschrott und Gesteinstrümmer. Im Rahmen von Führungen kann die Stollenanlage besichtigt werden. (Foto: Samuel Drößler)


Als im Frühjahr 1944 mit der Raketenproduktion begonnen wurde, verlegte die SS die Häftlinge in neu errichtete oberirdische Baracken. Kranke und stark geschwächte Häftlinge wurden in die umliegenden Außenlager oder andere Hauptlager transportiert. Die in der Stadt gelegene Boelcke-Kaserne diente dem KZ ab Januar 1945 als Kranken- und Sterbelager.



Das ehemalige Krematorium des Lagers und der Vorplatz mit einer der Plastik des Bildhauers Jürgen von Woyski, August 2023.  (Foto: Samuel Drößler)


1945 gab es über 40.000 Häftlinge im Lagerkomplex Mittelbau. Die meisten von ihnen waren aus der Sowjetunion, Polen und Frankreich. Während die Zahl jüdischer Häftlinge anfangs recht klein gewesen war, stieg sie ab Januar 1945 mit dem Eintreffen von Häftlingstransporten aus dem geräumten KZ Auschwitz stark an. Vermutlich waren ab Februar 1945 rund 20 Prozent alles Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora Juden.


Als sich Anfang April 1945 amerikanische Truppen näherten, sandte man alle Häftlinge, die noch gehen konnten, auf Todesmärsche oder transportierte sie in andere KZs. Dabei starben nach Schätzungen 8.000 Menschen. Etwa 500 im Hauptlager Dora und in der Boelcke-Kaserne zurückgelassene kranke Häftlinge wurden am 11. April 1945 von den Amerikanern befreit. Viele von ihnen waren in einem so schlechten Zustand, dass sie noch nach der Befreiung starben. Insgesamt überlebten rund 20.000 Häftlinge die Deportation nach Mittelbau-Dora nicht.

Exkurs 2: Martin Luther als Ikone der Stadt

Der Reformator Martin Luther (1483-1546), dessen Spätwerk judenfeindliche Hetzschriften umfasst und der die spätere antisemitische Ausrichtung des deutschen Protestantismus maßgeblich prägte, wird in Nordhausen an mehreren Orten geehrt: Direkt im Zentrum neben dem Rathaus liegt der Lutherplatz. Luther sind dort eine Spruchtafel, eine Büste und ein kleiner Brunnen gewidmet.



Der Lutherbrunnen in Nordhausen mit einem Zitat Luthers, Juli 2023. (Foto: Jenny Kretzmann)


Die Nationalsozialisten, vor allem aber die Deutschen Christen, beriefen sich in der Begründung ihrer antisemitischen Maßnahmen vielfach auf Luther. Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse, NSDAP-Mitglied seit 1930, zog in seiner antisemitischen Hetzschrift „Martin Luther über die Juden: Weg mit Ihnen!“ (1938) eine Verbindung zu den Novemberpogromen, welche zufällig an Luthers Geburtstag stattfanden. Er schrieb: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. […] In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der [...] der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“


Dieser Umstände zum Trotz wurde 2017 gegenüber der ehemaligen Synagoge ein neues Denkmal für den Reformer an der St. Blasii-Kirche in Nordhausen aufgestellt. Erst die Kritik der jüdischen Landesgemeinde an dem Vorhaben führte zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Denkmal. Als Kompromiss wurde das neue Denkmal schließlich durch eine kleine, in den Fußboden eingelassene Stahltafel ergänzt. Die Inschrift lautet:


2017 – Ein Jahr, in dem Martin Luther vom Sockel steigt. Wir erkennen: Luther ist ein Mensch gleich allen Menschen. [...] Auch dafür steht dieses Denkmal im Schatten der Blasiikirche und unweit der Nordhäuser Synagoge. Die Synagoge wurde in der Nacht des 9. November 1938 niedergebrannt, Kirchen durch Luftangriffe zerstört. Dafür, dass das Volk Gottes, die Juden, fast völlig vernichtet wurde, tragen Martin Luther und seine Kirche Schuld und Verantwortung. Auch darum steigt Martin Luther vom Sockel.“



Denkmal für Martin Luther vor der St. Blasii-Kirche, Juli 2023. (Foto: Jenny Kretzmann)


An der hinteren Ecke des Sockels befindet sich die Metalltafel mit der Aufschrift im Boden.


Die Verantwortlichen für die Inschrift müssen sich dem Vorwurf stellen, die Zerstörung der Synagoge während der Novemberpogrome mit den alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte, bei denen auch Kirchen getroffen wurden, gleichzusetzen. 


 

(Kopie 1)

Quellen und Literatur

Schröter, Manfred: Die Schicksale der Nordhäuser Juden 1933 bis 1945 (1., überarbeitete und ergänzte Neuauflage), Nordhausen 2013.

Schröter, Manfred/Gündel, Reinhard: Stolpersteine in Nordhausen, hrsg. vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und der Stadt Nordhausen, Nordhausen 2010.

Kuhlbrodt, Peter/Arnold, Leni: Das tausendjährige Nordhausen, Bd. 2: Chronik der Stadt Nordhausen 1802 bis 1989, Horb (Neckar) 2003.

Stern, Heinrich: Geschichte der Juden in Nordhausen, Neuauflage der Ausgabe von 1927, hrsg. von Manfred Schröter, Nordhausen 2008.

Wagner, Jens-Christian: Zwangsarbeit für den „Endsieg“: Das KZ Mittelbau-Dora 1943-1945, 2., überarbeitete Auflage, Erfurt 2020.

Zahradnik, Marie-Luis: Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens: Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert, Nordhausen 2018.

Links

Website Nordhausen im Nationalsozialismus, herausgegeben von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: https://www.nordhausen-im-ns.de/

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Ortseintrag zu Nordhausen:https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/m-o/1464-nordhausen-harz-thueringen

Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen: https://www.juedisches-leben-thueringen.de/projekte/juedische-friedhoefe-in-nordthueringen/

 

­


Autorin: Jenny Kretzmann, Studentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena