Ein Haus für G’tt. Die Synagoge in Bleicherode, ihr Modell, Neubau, Aufbruch und Abbruch der Synagoge von 1880 bis 1938
Ein Überblick über Geschichte, Gestaltung und Bedeutung der Synagoge von 1880 bis 1938 und ihr Modell
Ein Haus für G'tt
Michaelis Herzfeld, Fabrikant und Mitglied der jüdischen Gemeinde Bleicherode, wies in seiner Rede zur Legung des Grundsteins der zu erbauenden Synagoge am 7. Oktober 1880 auf die Anfänge des jüdischen Lebens in Bleicherode hin: Viele Juden aus Sollstedt und Obergebra siedelten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts im wirtschaftlich aufstrebenden Bleicherode an. Die Gräfin von Hagen überließ der jüdischen Gemeinde um 1791 auf „ewig“ den heute noch existierenden Betraum in der „Alten Kanzlei“. Mit dem Status als Schutzjude war oft eine dauerhafte Sesshaftigkeit verbunden. So konnte sich die frühneuzeitliche Gemeinde stetig weiterentwickeln. Michaelis Herzfeld: „Das Anwachsen der Gemeinde machte seit längerer Zeit den Bau einer größeren Synagoge zum dringenden Bedürfniß. Der Wunsch jedoch, daß das neue Gotteshaus ein monumentaler und auch im Inneren in würdiger Weise ausgestatteter Bau werde.“ Einen weiteren religiösen Ort hatte die Gemeinde bereits 1728 erworben: einen Begräbnisplatz am Vogelberg. Der frühneuzeitliche Betraum (ohne Ausstattung) in der Alten Kanzlei und der Friedhof sind die letzten erhalten gebliebenen und unter Denkmalschutz stehenden Zeugnisse jüdischer Geschichte in Bleicherode.
Zum Bau der Synagoge
Zur Zeit des Baubeginns um 1880 zählte die stetig wachsende jüdische Gemeinde 169 Mitglieder. Die Mitglieder des Vorstandes waren Philipp Schlesinger, Samuel Beyth und Baruch Hesse. Zu den Repräsentanten zählten Michaelis Herzfeld, Max Dankwerth, Carl Helft, Siegmund Frohsinn, Samuel Rothenberg, Isidor Frühberg, David Schönheim und Jakob Michaelis. Als Kultusbeamter fungierte William Frank in Personalunion als Lehrer und Prediger. Für das Vorhaben wurde ein Baukomitee eingerichtet, dem Philipp Schlesinger, Samuel Beyth, Baruch Hesse, Herrmann Frühberg, Michaelis Herzfeld, Carl Helft und Siegmund Frohsinn angehörten.
Die Gemeinde engagierte den zu seiner Zeit insbesondere für den Bau von Synagogen sehr bekannten Architekten und Königlichen Baurat Edwin Oppler aus Hannover, der eine ähnliche Synagoge bereits in Hameln hatte erbauen lassen. Die Gemeinde wollte aber vom Hamelner Modell abweichen, da dieses für sie zu teuer war. Der Bau sollte nicht mehr als 30.000 Mark kosten. Einsparpotenzial wurde darin gesehen, die Synagoge um 2,33 m kürzer zu bauen, statt vier nur drei Fenster auf jeder Seite und statt sieben Treppenstufen zum Eingang nur drei bis vier vorzusehen, außerdem vier schlichtere Sandstein-Zaunpfeiler mit einfachem Giebelaufsatz zu errichten, auf ein Repräsentantenzimmer zu verzichten, im Inneren den Wandanstrich und die Malerei schlichter zu gestalten und weniger Beleuchtung vorzusehen, die Estrade zum Allerheiligsten statt halbrund dann kürzer und rechteckig und mit weniger Stufen zum Podest zu bauen und die Vorhänge z. B. für den Toraschrein weniger zu verzieren. Der verkleinerte Bau sollte 20 Sitzplätze weniger haben und 30.443,05 Mark kosten.
Edwin Oppler hätte für den Bau der Synagoge nach dem Modell von Hameln rund 1.200 Mark Honorar für den Synagogenbau und 35 Mark für Reisekosten bekommen wollen. Der Architekt stellte im Verlauf der Verhandlungen jedoch fest, dass mit den baulichen Änderungen, die vorgenommen werden sollten, um die Kosten zu senken, schließlich eine neue Synagoge gebaut werden würde, sodass über das Honorar verhandelt werden müsse. Jedoch konnte er die Baumaßnahmen nicht mehr begleiten, da er einen Monat vor der Grundsteinlegung am 6. September 1880 verstarb. Die Witwe Ella Oppler teilte der Baukommission der jüdischen Gemeinde mit, hier zu Händen an Samuel Beyth, dass sie Ferdinand Schorbach den Auftrag übergeben habe. Er war Teilhaber in Opplers Architekturbüro. Mit ihm schloss die Baukommission den Vertrag zum Neubau der Synagoge am 14. März 1881.
Gegenüber dem Vorbild der Synagoge in Hameln wurde tatsächlich kleiner gebaut, was sowohl ein archivierter Bauplan als auch die Anzahl der Fenster und der Treppenstufen auf Fotografien des bis 1938 existierenden Bauwerks belegen. Dennoch lagen die Gesamtkosten mit Grund und Boden und Einzäunung des Grundstücks bei 44.900 Mark, wie einem Vermerk vom 29. Dezember 1881 zu entnehmen ist. Daraus geht auch die Finanzierung hervor: 4.200 Mark kamen aus dem Synagogen-Baufonds, 13.500 Mark aus freiwilligen Schenkungen, 900 Mark aus einem Erlös aus dem Verkauf eines Grabens an den Maurermeister Schulze und 1.500 Mark aus dem Verkauf der Stellen. Mit „Stellen“ sind die Plätze in der Synagoge gemeint, die wie schon im alten Synagogenraum an die Mitglieder verkauft oder verpachtet wurden. Ein Platz kostete um die 30 Mark. Die noch fehlenden 23.000 Mark sollten bei Gemeindemitgliedern nach Ausstellung von 230 Schuldscheinen à 100 Mark geliehen und mit 5 % jährlich verzinst werden. Aus einer Übersicht der Schuldscheine vom 7. Juni 1882 geht hervor, dass 209 über insgesamt 20.900 Mark ausgegeben wurden.
Die Aufträge für den Bau der Synagoge wurden regional und überregional vergeben. Der Bleicheröder Steinsetzermeister Pfitzenreuter befreite das Gartenstück vom Baumbewuchs und übernahm die Ausschachtungsarbeiten. Die Maurerarbeiten führte der Bleicheröder Maurermeister Schirmer aus. Christian Becke, ebenfalls aus Bleicherode, wurde mit Arbeiten für den Innenausbau beauftragt. So kamen die Täfelungen, Kanzel, Betpult, Turmtür, Fußboden, Treppenhandgriff, 66 Männer- und 52 Frauensitze, Fenstereinsätze, Garderobenhalter von ihm. Der aus Nordhausen kommende Architekt und Maurermeister Erich Kaufmann übernahm die Bauleitung. Aus Nordhausen wurden Zaungitter von der Firma Harzer Actien-Gesellschaft für Eisenbahnbedarf, Hartguss, Brückenbau – vormals Firma Theilen u. Weydemeyer – bezogen und ebenso Gesetzestafeln aus Stein vom Steinmetzmeister Carl Lüttig gefertigt. Der Dekorateur Hermann Baumann aus Nordhausen lieferte den Samt-Vorhang zum Ziehen für das Allerheiligste, eine Goldborte mit Schnur und eine Tischdecke. Ebenso waren Firmen aus Hannover beteiligt, wie ehem. Hauers & Gosewisch dann Hannoverische Kunstziegelei C. & F. Hauers, welche die Dachsteine lieferte, und die Werkstatt für Eisen-Construktionen, Bauschlosserei und Fabrik für schmiedeeiserne Ornamente von Louis Eilers, welche die Beschläge für die Doppelschiebetüren vor dem Allerheiligsten und für das Betpult oder auch die für die Haupteingangstür und das Treppengeländer von der Halle zur Empore und die Spitze mit Stern lieferte. Die Zaunpfeiler aus Sandstein kamen vom Steinhauermeister B. Finck aus Hameln.
In zwei Jahren Bauzeit entstand ein Gotteshaus als Langbau im neuromanischen Stil mit zwei repräsentativen Türmen für eine liberale und reformoffene Gemeinde auf dem Eckgrundstück an der Ecke Obergebraer Straße/Gartenstraße in Bleicherode. Ihre Größe und Baulichkeit prägte mit ihrer Einweihung das Stadtbild mit und zeigte, dass das jüdische Leben seinen religiösen und kulturellen Platz hatte.
(Kopie 1)
Grundrisse vom Parterre und von der Empore mit Bestuhlung und Beleuchtung für die Synagoge in Bleicherode.
Im Parterre sind 66 Sitze und im Obergeschoss 78 Sitze eingezeichnet. Wie die archivierten Rechnungen für den Bau der Synagoge zeigen, wurden für die Empore aber nur 52 Sitze beschafft. Dies deutet darauf hin, dass auf der Stirnseite – zumindest zunächst – nur die beiden vorderen Sitzreihen realisiert wurden.
Entwurf zur Beleuchtung der Synagoge.
Blick in den Innenraum der Synagoge.
Über den aus Holz gefertigten Sitzbankreihen für 66 Personen sind rechts und links ebenso aus Holz gearbeitete Geländer der Frauenempore und die hängenden Kerzenleuchter aus Eisen und Messing zu sehen. Hinter der Bima (Lesetisch) am Toraschrein ist ein Vorhang zu sehen, die sog. Parochet, wie üblicherweise in aschkenasischen Gotteshäusern verwendet. Der Prachtvorhang, zumeist aus Samt, Seide, Leinen oder auch Brokat gefertigt, verdeckt die Torarollen. Ihn zieren zwei stehende Löwen mit je einer Torarolle, darüber befinden sich eine Krone und weitere kleinere Symbole.
Blick auf Bima (Lesetisch), Kanzel (Rednerpult) und Toraschrein mit Vorhang.
Die Wand, an der sich der Schrein befindet, ist mit Holz vertäfelt. Darüber befindet sich eine dekorative Malerei. Rechterseits sind acht Kerzen zu sehen. An dieser Stelle sind im Grundriss acht Punkte und die Beschriftung „Menora“ zu sehen. Allerdings hat ein Menora-Leuchter nur sieben Kerzen, während der Chanukka-Leuchter acht Kerzen hat. Sonderbar ist auch, dass die Kerzen auf dem Bild – anders als bei Menora- und Chanukka-Leuchtern üblich – nicht waagerecht nebeneinander angeordnet zu sein scheinen. In der Wand befindet sich ein Rundfenster und darüber drei kleine Halbbogenfenster jeweils mit Bleiverglasung. Die Wand ist ebenfalls bemalt in Anlehnung eines Stoffvorhangs, der an einer Stange hängt. Darüber geht die Malerei weiter.
Einweihung der Synagoge
Für die Vorbereitungen des anstehenden Einweihungsfestes wurden Einladungen versandt. 300 gedruckte Programmhefte in Deutsch und Hebräisch, 150 Einlasskarten sowie je 100 Tanzordnungen auf weißem und rotem Karton wurden von der Buchdruckerei Wilhelm Niehoff aus Bleicherode bestellt. Die Putz- und Modewarenhandlung von Rosalie Beyth aus Bleicherode wurde mit der Lieferung von blauen Rosetten beauftragt.
Zur Einweihung der Synagoge am 1. Juni 1882 wurde ein großes Programm zusammengestellt: Die Feierlichkeit begann mit einer Abschiedsfeier im alten Gebetsraum in der Alten Kanzlei um 14 Uhr. Ihr schloss sich um 15 Uhr ein Festumzug zur neuen Synagoge mit Toraträgern, Chorgesang und Gästen an. Unter den geladenen Gästen waren auch der Nordhäuser Rabbiner Dr. David Leimdörfer, der das Programm mit religiösen Ansprachen und mit der Weihepredigt mitgestaltete. Der aus Bleicherode stammende Landesrabbiner Prof. Philipp Heidenheim hielt die Festrede. Das Ablegen der Torarollen in die Heilige Lade und das Anzünden der ewigen Lampe zählten zu den Höhepunkten der Tempelweihe. Der Druck der Tanzordnungen sowie eine Rechnung für Getränke für Musiker von W. Hirschfeld, Inhaber des Rathskellers, lassen darauf schließen, dass dort im Anschluss an die Einweihung der neuen Synagoge noch eine gesellige Feier mit Tanz stattfand.
Nicht nur der Baustil, sondern auch die Redebeteiligung von liberal-reformoffenen Glaubensangehörigen, die musikalische Begleitung durch den Synagogenchor oder auch die Formulierungen in der Lokalzeitung über die Einweihung mit Wörtern wie „Konfirmation“ sind Merkmale einer jüdischen Reformgemeinde.
Zerstörung der Synagoge und die lokale Kultur der Erinnerung an sie
In Folge der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 wurde der in Teilen von Politik und Gesellschaft zuvor schon vorhandene Antisemitismus systematisch und mit Brutalität und Gewalt vorangetrieben. In der „Reichskristallnacht“ 1938 fiel auch die Bleicheröder Synagoge einem Brandanschlag zum Opfer, sodass sie als Ort jüdischen Glaubens aus dem Stadtbild Bleicherodes für immer verschwand.
Nach der Pogromnacht kamen Vertreter der Stadtverwaltung und Vorstandsmitglieder der Gemeinde, der Fabrikant Walter Schlesinger und der Kaufmann Kurt Schlesinger, zu einer Verhandlung zusammen. Aus dieser ging hervor, dass die jüdische Gemeinde der Stadt das Grundstück käuflich überlassen wolle. Das Grundstück wurde ohne Einnahme verkauft, denn: „Der Kaufpreis beträgt 2,60 RM je qm, der aber durch die stadtseitig aufgewendeten Abbruchs- und Aufräumungskosten als abgedeckt anzusehen ist.“
1988 wurde ein Gedenkstein an den Standort der zerstörten Synagoge gesetzt. Er mahnte und erinnerte mit der Inschrift: „Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Bleicherode. Sie wurde in der Pogromnacht am 9. November 1938 von Faschisten niedergebrannt.“
Der Stein wurde 2005 durch einen neuen Gedenkstein ersetzt, der eine andere Inschrift trägt: „Zum Gedenken an die Synagoge der jüdischen Gemeinde der Stadt Bleicherode, die in der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 von Nationalsozialisten in Brand gesteckt wurde. Diese verbrecherische Tat mahnt: ‚Wehret den Anfängen‘“. Neben den Gedenkstein wurden zwei am „Unteren Feuerteich“ aufgefundene Steine der einstigen Synagoge gesetzt.
Das Synagogenmodell
Die Geschichte und die Bedeutung der 1880/82 erbauten Synagoge sollen nicht in Vergessenheit geraten. Das Modell der Synagoge nimmt eine über ihre Geschichte erzählende Stellvertreterrolle des zerstörten jüdischen Gotteshauses ein.
Das Modell der Bleicheröder Synagoge hat auch eine eigene Geschichte. Im Rahmen des Ausstellungsthemas „Architektur der Synagoge“ anlässlich der Eröffnung des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main wurden Recherchen unternommen, um nach den Vorlagen von Edwin Oppler ein Modell anzufertigen. Das Atelier Tschavgov wurde im Jahr 1988 damit beauftragt. Das Modell wurde im Maßstab 1:100 gefertigt und ist aus Kunststoff geätzt. Im Frühjahr 2023 wurde Prof. Eckhard Grunewald auf das Modell aufmerksam und gab den Hinweis seines Aufbewahrungsortes an die Mitglieder der Zukunftswerkstatt weiter. Nach einem Besuch, einem ersten Scan des Modells in Frankfurt und besonders durch weitere Recherchen stellte sich heraus, dass das Modell nicht der Synagoge in Bleicherode entspricht. Dem Modell liegt der Erstentwurf von Edwin Oppler zugrunde. Die Synagoge wurde aber – wie bereits dargestellt – tatsächlich kleiner und mit schlichterer Innenausstattung gebaut.
Die Auswertung der Unterlagen der Archive, besonders die aus dem Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, ergab genügend Daten, um ein neues Modell nach neuen Erkenntnissen bauen zu lassen. Der Bildhauer und Erschaffer des Bleicheröder Schneckenhengstes, Kai Hartmann, wurde mit in das Vorhaben eingebunden. Zusammen wuchs die Idee, ein Modell aus Lindenholz zu bauen, das mobil ist, um es einer breiten Öffentlichkeit an verschiedenen Ausstellungsorten zugänglich machen zu können. Zugleich sollte es für pädagogische Wissensvermittlung über den Aufbau einer Synagoge und über das religiöse Leben genutzt werden können.
3D-Digitalisat des Synagogenmodells
(Kopie 3)
Eine Synagoge für Bleicherode: Ein Film über Vergangenheit und Gegenwart
(Kopie 2)
Der Text wurde entnommen aus der Broschüre „Die Synagoge in Bleicherode. Ein Haus für G’tt. Ein Überblick über Geschichte, Gestaltung und Bedeutung der Synagoge von 1880 bis 1938 und ihr Modell.“ Dort finden sich auch die Belegstellen der zitierten Quellen.
© Arbeitsgruppe Nordhausen – Gegen Vergessen für Demokratie e. V. & Dr. Marie-Luis Zahradnik
Herausgeber: Gegen Vergessen für Demokratie e. V. & Dr. Marie-Luis Zahradnik
Projektleitung: „Zukunftswerkstatt – Jüdisches Leben und Erbe in Bleicherode“ (Dr. Marie-Luis Zahradnik, Rosemarie Hilger, Dr. Christoph Maletz, René Fiedler)
Verfasserin: Dr. Marie-Luis Zahradnik, Bürgermeister Frank Rostek
Abbildungen: Bestand des Archivs der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Kreisarchiv Nordhausen, Heimatmuseum Bleicherode, Dr. Marie-Luis Zahradnik
ISBN-Nr.: 978-3-9825090-1-3
3D-Modell: Dr. Marie-Luis Zahradnik
Imagefilm: Alice End (2023)
3D-Bearbeitung & CMS: Daniel Pelz (ThULB Jena)