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Das Tagebuch der Eva Schiffmann

Ich denke jetzt oft an einen Beruf für mich. Erst wollte ich Jugendleiterin werden, dann Lehrerin und jetzt möchte ich Jura studieren. Alle drei Dinge finde ich schön. […] Aber das verträgt sich doch gar nicht mit meinem Zionismus?


Eva Schiffmann, Gotha am 4. November 1928


Eva Schiffmann blickt als Teenager und aus einer jüdischen Perspektive auf die Weimarer Republik. Sie entwirft von sich das Bild einer modernen heranwachsenden Frau, die das Abitur ablegen und studieren will. Im Jungjüdischen Wanderbund scheint für sie die Alternative auf, sich für eine landwirtschaftliche Ausbildung in Vorbereitung auf die Auswanderung nach Erez Israel zu entscheiden.


Ziel des Projektes ist eine digitale Repräsentation und umfassende Erschließung des Tagebuchs von Eva Schiffmann (1925–1930) auf einem Wissenschafts- und Bildungsportal. Im Anschluss an gegenwärtige Konzepte und Praktiken aus den Informationswissenschaften, aus der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik entwickelt dieses Projekt neue Ansätze: zum einen für die Repräsentation von Tagebüchern und die Transformation historischer Quellenkritik unter digitalen Bedingungen und zum anderen für eine Auseinandersetzung mit der Weimar Republik, die einen integrierten Ansatz deutsch-jüdischer Geschichte wählt und auf eine demokratische Bildung zielt.


In einem Gemeinschaftsprojekt wird das Tagebuch von Eva Schiffmann durch die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek und die Professur für Geschichtsdidaktik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bis Ende 2022 digitalisiert und als Online-Edition auf dem Bildungsportal Kulthura veröffentlicht.

Eine digitale Edition für Unterricht und Studium

Vor zehn Jahren übergab die Tochter Eva Schiffmanns, Dr. Zivit Abramson, das Tagebuch an das Stadtarchiv Gotha, wo es seitdem sicher aufbewahrt ist. Die historische und didaktische Erschließung soll heutigen Nutzer/innen die Zukunftsmöglichkeiten vergegenwärtigen, die die Weimarer Demokratie ihren Bürger/innen eröffnete, aber auch den Entscheidungsdruck, der auf ihnen lastete, wenn sie sich zwischen alternativen Lebensmodellen hin- und hergerissen sahen, nach denen alles möglich schien. Über viele Tagebucheinträge wird so der Zwang des Individuums zur Entscheidung erfahrbar, der für die moderne, plurale Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts – im Unterschied zu Diktatur und autoritären Ordnungen – charakteristisch ist.


Aufgrund seiner thematischen Bandbreite und seiner Relevanz für den Lernprozess im Umgang mit historischen Quellen soll das Tagebuch insbesondere Lehrenden und Lernenden in Schule und Universität zugänglich gemacht werden, indem es digitalisiert wird, Einträge kontextualisiert und mit anderen Archiv- und Bibliotheksbeständen verlinkt werden.

Das Tagebuch als Selbstentwurf eines Teenagers

Die Biographie und das Selbstbild Eva Schiffmanns stehen für die Aufstiegschancen, die die Weimarer Verhältnisse (jüdischen) Kindern aus kleinbürgerlichen Verhältnissen boten. Die begabte Schülerin wechselte 1925 von der Volksschule auf die Aufbauschule, um dort ihr Abitur abzulegen. Ihr Wunsch ein Studium aufzunehmen und einen Beruf als Richterin oder Lehrerin zu ergreifen stand jedoch im Widerspruch zu den Anforderungen des zionistisch-sozialistischen Jungjüdischen Wanderbunds (JJWB), in dem sie organisiert war und der seine Mitglieder mittels landwirtschaftlicher Ausbildung darauf vorbereitete, als Pioniere nach Erez Israel auszuwandern. Der innere Konflikt, der sich aus den Handlungs- und Entscheidungsspielräumen eines Teenagers in der Weimarer Republik ergibt, und den Eva Schiffmann im Tagebuch mit sich austrug, ist Grundlage eines problemorientierten und forschend-entdeckenden Lernsettings.


 

Eva Schiffmann

1934 in Berlin kurz vor ihrer Emigration nach Erez Israel. Eva Schiffmann hat zwischen 1925 und 1930 in Gotha gewohnt und Tagebuch geschrieben.


© Fotosammlung Dr. Zivit Abramson

Die Weimarer Republik im Tagebuch

Über den individuell-biographischen Ansatz hinaus gewährt das Tagebuch auch kulturraumspezifische Einblicke in die Lebensrealität und Alltagswahrnehmung eines in einer Kleinstadt aufwachsenden jüdischen Mädchens. Es zeigt, dass die Kultur der „Goldenen Zwanziger“, die Schulreform und die Errungenschaften der ersten Frauenbewegung weit über die Großstädte hinausreichten.


Auf 177 handschriftlich verfassten Seiten hielt Eva Schiffmann sowohl ihre Erfahrungen aus der Schulzeit fest, die sie an einer der nach 1918/19 gegründeten Reformschulen der Weimarer Republik verbrachte, als auch Erlebnisse in der Freizeit, in der sie zeitgenössische Bücher las sowie Filmvorführungen und Theatervorstellungen besuchte. Darüber hinaus enthält das Tagebuch erstaunlich tiefgehende Überlegungen zu Fragen nach Krieg, Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit sowie Reflexionen über ihre (ost-)jüdische Sozialisation und das moderne Frauenbild, das im Kontrast zu den bürgerlichen Moralvorstellungen der Mutter stand.

Historisches Lernen: Digitalisierung und deutsch-jüdische Geschichte

Mit dem Projekt werden in mehrfacher Hinsicht innovative Impulse gesetzt.

  • Erstens zielt es auf die Open-Access-Politik sammlungshaltender Institutionen (Archive, Museen, Bibliotheken) und im Besonderen die der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, welche nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Bildung fruchtbar zu machen ist. Damit ist zugleich ein erkennbares Desiderat in der Geschichtsdidaktik aufgegriffen, das unter dem aktuellen Zwang zur Distanzlehre aufgrund der Einschränkungen der Corona-Pandemie deutlich geworden ist: In Bezug auf die historisch-politische Bildung in der digitalen Welt ist die Geschichtsdidaktik bislang stark in der Theorie und teilweise auch in der Empirie, indem sie etwa das veränderte und unspezifische Quellenverständnis (z.B. „Internet als Quelle“) thematisiert. Dagegen gibt es kaum Angebote für quellenkritisches historisches Lernen mit, an und über digitale Medien.
  • Zweitens ist die Erschließung des Tagebuchs für historische Lernprozesse ein wichtiger Beitrag zur Demokratiebildung, da hier das festgefahrene Deutungsmuster von der zwangsläufig gescheiterten Weimarer Republik, das den Geschichtsunterricht und die Geschichtskultur immer noch prägt, aufgebrochen wird.
  • Drittens soll mit dem geplanten Wissenschafts- und Bildungsportal ein Angebot unterbreitet werden, mit dem die didaktische Konzeption einer über die Shoah hinausgehenden integrierten deutsch-jüdischen Geschichte umgesetzt werden kann.

Kontakt

Projektleitung

Prof. Dr. Anke John
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Historisches Institut
Professur für Geschichtsdidaktik
Zwätzengasse 3, Raum 203
07743 Jena

Telefon 03641 94 44 38 / 29 (Sekretariat)
anke.john@uni-jena.de

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Wilma Schütze, M.A.
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Historisches Institut
Professur für Geschichtsdidaktik
Zwätzengasse 3, Raum 103
07743 Jena

Telefon 03641 94 44 35
wilma.schuetze@uni-jena.de

Studentische Mitarbeiterin

Barbara Krug
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Historisches Institut
Professur für Geschichtsdidaktik

barbara.krug@uni-jena.de

Projektpartner

Dr. Andreas Christoph 
Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena
Leiter der Abteilung für Digitales Kultur- und Sammlungsmanagement
Bibliotheksplatz 2
07743 Jena

Telefon 03641 94 04 003
andreas.christoph@uni-jena.de

Swantje Dogunke, M.A.
Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena
Fachreferentin für Alte Geschichte, Geschichte, Volks- und Völkerkunde
Bibliotheksplatz 2
07743 Jena

Telefon 03641 94 04 049
swantje.dogunke@uni-jena.de