Jüdisch-hebräische Sprachwissenschaft
Als Sprache der Heiligen Schrift kommt dem Bibelhebräischen im Judentum eine besondere Bedeutung zu. Die Reinheit der biblischen Sprache zu bewahren und das Verständnis der Heiligen Schrift zu befördern, war erklärtes Ziel der frühen jüdischen Grammatiker. Angeregt und methodisch untermauert wurde die jüdisch-hebräische Sprachwissenschaft durch die arabische Grammatiktradition, die seit dem 8. Jh. einen auf dem Koran und anderen frühen Sprachzeugnissen fußenden Standard, das sogenannte Klassische Arabisch, etabliert hat. So schrieben denn auch die ersten jüdischen Grammatiker ihre Werke ausschließlich auf Arabisch.
Von Spanien ausgehend verbreitete sich die hebräische Sprachwissenschaft alsbald in ganz Europa, nicht zuletzt bedingt durch die zunehmenden politischen Schwierigkeiten im Lande selbst. Einer der frühesten jüdischen Grammatiker in Italien war Natan ben Jechiʾel aus Rom (um 1035–1106). Ihm verdanken wir das erste umfassende Wörterbuch zur Sprache des Talmud, das nicht nur den Wortschatz der hebräischen Bibel, sondern auch den der weitgehend in aramäischer Sprache abgefassten rabbinischen Literatur wie Talmud und Targum enthält (2 Rabb.II,111). Das Werk wurde als eines der ersten hebräischen Bücher überhaupt bereits um 1469 gedruckt. In der Mitte des 12. Jh. ließ sich die aus Andalusien stammende Gelehrtenfamilie der Qimchi in der Provence nieder, wo ihr bedeutendster Vertreter, David Qimchi, zeit seines Lebens wirken sollte. Der deutschstämmige Elia Levita prägte die durch den Humanismus beflügelte europäische Hebraistik des 16. Jh. und genoss höchstes Ansehen auch in christlichen Gelehrtenkreisen. Den chronologischen Abschluss der Präsentation bildet ein Werk von Menachem ben Jehuda di Lonzano (um 1550–1624), der von Jerusalem aus weite Reisen (u.a. nach Italien) unternahm, um unbekannte Handschriften aufzuspüren.
5.5
Das Werk wurde wie auch Qimchis Wörterbuch direkt in Venedig für die kurfürstliche Bibliothek angekauft und passend eingebunden.
Natan ben Jechiʾel: Séfer he-ʿArukh; Venedig: Daniel Bomberg, 1531; Kalbsledereinband des 16. Jh; Fol. 109v–110r
2 Rabb.II,111 (Kat.-Nr. 5.5)
(Kopie 3)
5.6
Das Nachschlagewerk entstand nach Vorbild lateinischer Konkordanzen, um im Disput mit den Theologen auf Augenhöhe zu sein.
Isaak (Mordechai) ben Natan ben Qalonymos: Séfer Meʾir Nativ (ספר מאיר נתיב); Basel: Ambrosius Froben, 1581
2 Theol.XXI,2 (Kat.-Nr. 5.6)
Ende des Buchstabens He (הא), die wenigen Wörter mit Waw (ואו) und der Anfang von Zajin (זין)
Isaak (Mordechai) ben Natan ben Qalonymos: Séfer Meʾir Nativ (ספר מאיר נתיב); Basel: Ambrosius Froben, 1581
2 Theol.XXI,2 (Kat.-Nr. 5.6)
5.7
Levita vertritt hier erstmals die Auffassung, dass Vokal- und Akzentzeichen dem biblischen Text erst Jahrhunderte später hinzugefügt wurden.
Elia Levita: Séfer Masoret ha-Masoret (ספר מסורת המסורת), hrsg. von Sebastian Münster; Basel: Heinrich Petrus, 1539
8 Rabb.II,26 (Kat.-Nr. 5.7)
(Kopie 3)
5.8
Vergleich abweichender Akzent- und Vokalnotierungen in neuentdeckten Handschriften mit der Zeichensetzung in Bombergs Rabbinerbibel
Menachem b. Jehuda di Lonzano: Or Tora; Amsterdam 1659
4 Rabb.II,139(3) (Kat.-Nr. 5.8)
Abschrift des Textes der Druckausgabe von 1659 unter genauer Beachtung gestalterischer Details
Menachem ben Jehuda di Lonzano: Or Tora (אור תורה); Handschrift auf Papier, 40 Blatt; Mitteleuropa, nach 1659
Ms. Prov. o. 37a (Kat.-Nr. 5.8)
David Qimchi (um 1160–1235) – einflussreicher Grammatiker aus Narbonne
Rabbi David Qimchi (abgekürzt RaDaQ = רד״ק) stammte aus einer von Spanien nach Frankreich übersiedelten jüdischen Gelehrtenfamilie. Neben zahlreichen Bibelkommentaren ist vor allem sein unter dem programmatischen Titel Mikhlol („Gesamtheit“) veröffentlichtes sprachwissenschaftliches Werk von Bedeutung, das aus einer Grammatik und einem Wörterbuch besteht (Ms. Rec. adj. f. 6). Letzteres ist unter dem Titel „Buch der Wurzeln“ (Séfer ha-Schoraschim) auch separat verbreitet und schon früh in Rom gedruckt worden. In beiden Teilen verarbeitete Qimchi den Wissensstand seiner Zeit und ging dabei methodisch über seine Vorgänger hinaus. Zahlreiche Elemente der hebräischen Laut- und Formenlehre wurden von ihm in einer Weise systematisiert, die noch heute Gültigkeit besitzt (2 Rabb.II,82).
5.3
Die Stammformen (binjanim) Puʿal (passiv, rechts) und Hifʿil (kausativ, links), mit Formenparadigmen wie in einem modernen Lehrbuch
David Qimchi: Séfer Mikhlol (ספר מכלול) Venedig: Daniel Bomberg, 1545; Fol. 21v–22r
2 Rabb.II,82(1) (Kat.-Nr. 5.3)
(Kopie 3)
5.4
angefertigt im Auftrag Johann Friedrichs I. des Großmütigen vom Wittenberger Hofbuchbinder
David Qimchi: Séfer ha-Schoraschim; Venedig: Daniel Bomberg, 1529; Einband von Joachim Linck (1534)
2 Rabb.II,83 (Kat.-Nr. 5.4)
(Kopie 3)
Schicksale jüdischen Schrifttums am Beispiel von David Qimchis Mikhlol
Die in der Ausstellung gezeigten vier Ausgaben von David Qimchis sprachwissenschaftlichem Werk schlagen einen Bogen von den Druckzentren hebräischer Schriften im frühneuzeitlichen Europa über die Anfänge hebräischer Buchproduktion im Orient bis hin zu der Frage, wie derlei Schriften von ihren einstmals jüdischen Besitzern in den Bestand einer deutschen Universitätsbibliothek gelangen konnten. Konstantinopel (Istanbul), die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, war seit dem Mittelalter ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens. Dominiert wurde die jüdische Gemeinschaft der Stadt von Sefarden, den 1492 im Zuge der Reconquista aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden, die auch den hebräischen Buchdruck in der Stadt etablierten – mehr als zweihundert Jahre, bevor das erste Buch in türkischer Sprache gedruckt werden sollte. 1530 kam Gerschom Soncino nach Konstantinopel, ein jüdischer Drucker mit Wurzeln in Speyer, der zuvor vierzig Jahre lang an verschiedenen Orten in Italien und zuletzt in Saloniki tätig war. In Konstantinopel brachten Gerschom und sein Sohn Eliʿezer mehr als 40 Titel heraus, darunter mehrere Ausgaben von Qimchis Grammatik.
Das Manuskript Ms. Rec. adj. f. 6 wurde einem handschriftlichen Eintrag auf Fol. 1r zufolge 1701 von Johann Andreas Danz „nach der Einnahme Budas im Jahre 1684“ (recte 1686) erworben. Als die kaiserlich-habsburgischen Truppen im Zuge des Großen Türkenkrieges von 1683–1699 die Stadt Buda (heute Budapest) eroberten, die zuvor beinahe 150 Jahre lang von den Osmanen beherrscht worden war, verübten die Sieger nicht nur ein Massaker an der muslimischen Bevölkerung, sondern auch an der jüdischen Gemeinde der Stadt. Zu den dabei geplünderten Objekten aus jüdischem Besitz dürfte auch die Handschrift von Qimchis Grammatikwerk gehören.
5.1
Ende des Grammatikteils (rechts) und Beginn des Wörterbuches („Buch der Wurzeln“, links)
David Qimchi: Séfer Mikhlol (ספר מכלול); Handschrift auf Pergament, 358 Blatt; Spanien(?), um 1300(?); aus der „Türkenbeute“ von Buda 1686; Fol. 126v–127r
Ms. Rec. adj. f. 6 (Kat.-Nr. 5.1)
(Kopie 3)
5.2
„gedruckt in Qosṭantina (בקוסטאנטינא), der Stadt des prächtigen Königs Sultan Suleiman, im zwölften Jahr seiner Herrschaft“
David Qimchi: Séfer Mikhlol (ספר מכלול); Konstantinopel: Gerschom Soncino, 1532/33; Titelseite
8 Gl.II,15 (Kat.-Nr. 5.2)
Ganzseitige Druckermarke Gerschom Soncinos
David Qimchi: Séfer Mikhlol (ספר מכלול); Konstantinopel: Gerschom Soncino, 1532/33; Titelrückseite
8 Gl.II,15 (Kat.-Nr. 5.2)