Sture Dogmatiker oder gewissenhafte Bibelleser? Die Exegese der Karaiten
Der Begriff Karaiten bzw. Karäer steht für eine Religionsgemeinschaft, die in Abgrenzung zum rabbinischen Judentum im 9. Jh. entstand. Dem Wort „Karaitisch“ liegt die hebräische Wurzel qaraʾ =קרא zugrunde, die „lesen“ oder „rufen“ bedeutet, was u.a. mit dem klaren Bezug der Karäer auf die Heilige Schrift (miqraʾ = מקרא) in Verbindung gebracht werden kann. Der zentrale Unterschied zum rabbinischen Judentum besteht nämlich im Verhältnis zu biblischer Gesetzgebung und außerbiblischer Tradition. Gehen die Rabbinen davon aus, dass neben der schriftlichen auch eine mündliche Tora gleicher Autorität existiert – die sogenannte Mischna, lehnen die Karaiten diese wie auch die übrigen Bestandteile des Talmuds ab. Nach karaitischer Ansicht sind alle Gesetze vielmehr direkt aus dem Bibeltext abzuleiten – ohne großen Raum für Meinungsverschiedenheiten oder die Interpretation traditioneller Quellen. Dabei werden die Propheten (Neviʾim) und die Schriften (Ketuvim) als Rechtsquellen der Tora gleichgestellt. Ein wesentliches Argument hierfür wird aus Psalm 19:8 gezogen: „Die Weisung des Herrn ist vollkommen“. Daher ist die karaitische Exegese um ein Vielfaches strenger als die rabbinische. So wird etwa das in Exodus 35:3 formulierte Verbot, am Schabbat Feuer anzuzünden, auch auf das Anzünden von Kerzen kurz vor Sonnenuntergang oder das Warmhalten von Essen ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die literarischen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des rabbinischen Judentums und Karaiten entsprechend erbittert geführt wurden, wobei sich Letztere nie richtig durchsetzen konnten. Man geht davon aus, dass es heute noch etwa 35.000 Mitglieder dieser Strömung weltweit gibt.
Aaron ben Elijahu (um 1300–1369) – Philosoph und karaitischer Theologe
Aaron ben Elijahu „der Jüngere“ aus Nikomedia (heute Izmit, Türkei) verbrachte sein Leben weitestgehend im Byzantinischen Reich, zuletzt in Konstantinopel, wo er auch starb. Die Karaiten sehen ihn als Pendant zu dem jüdischen Philosophen Maimonides (RaMBaM) an, stellt doch sein erstes Werk, ʿEtz Chajjim („Lebensbaum“, verfasst 1346), den Versuch eines karaitischen Gegenentwurfs zu Maimonides’ Wegweiser für die Verwirrten dar. Das zweite, 1354 entstandene Werk mit dem Titel Gan ʿÉden oder Séfer ha-Mitzwot („Der Garten Eden“ bzw. „Buch der Gebote“, Ms. Rec. adj. f. 4) kann als Rechtfertigung der karaitischen Rechtslehre verstanden werden. Mit philologischer Spitzfindigkeit begründet Aaron beispielsweise in dem ausgestellten Abschnitt, dass das jubelnde „Lärmen“ (teruʿa) aus festlichem Anlass keineswegs den Gebrauch eines Horns einschließt (wie im rabbinischen Judentum der Fall), sondern im Erheben der menschlichen Stimme beruht. Den Abschluss seines Œuvres bildet ein Kommentar zum Pentateuch von 1362, Kéter Tora („Krone der Tora“, Ms. Rec. adj. f. 5), in welchem Aaron die Prinzipien karaitischer Exegese im Kontrast zur rabbinischen Auslegung demonstriert. Trotz Festhaltens an der wörtlichen Bedeutung des biblischen Textes legt der Autor dabei eine umfassende Kenntnis der rabbinischen Literatur an den Tag, indem er aus den Werken von Abraham Ibn ʿEzra, RaSCHI, David Qimchi, Maimonides und anderen zitiert. Das hier aufgeschlagene Vorwort des Traktats behandelt drei wesentliche Meinungsverschiedenheiten (machloqet= מחלוקת) zwischen karaitischer und rabbinischer Exegese, die letztlich den Kern der karaitischen Kritik umkreisen: die Ablehnung einer mündlichen Tradition neben dem TaNaKH nach dem Grundsatz „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete!“ (Deuteronomium 4:2).
4.1
Gegen die Sitte, am Neujahrsfest („Tag des Lärmblasens“ – jom teruʿa) das Widderhorn zu blasen
Aaron ben Elijahu: Gan ʿÉden oder Séfer ha-Mitzwot; Handschrift auf Pergament, 292 Blatt; Italien(?), 1464; aus der „Türkenbeute“ von Buda 1686; Fol. 84v–85r
Ms. Rec. adj. f. 4 (Kat.-Nr. 4.1)
(Kopie 3)
4.2
Die drei wesentlichen Meinungsverschiedenheiten (מחלוקת) mit den Rabbinen über das Gesetz
Aaron ben Elijahu: Kéter Tora; Handschrift auf Papier, 404 Blatt; Spanien(?), ca. 15. Jh.; aus der „Türkenbeute“ von Buda 1686; Fol. 3v–4r
Ms. Rec. adj. f. 5 (Kat.-Nr. 4.2)