Mischna, Talmud und Midrasch – Die Auslegung des Jüdischen Gesetzes in rabbinischer Tradition
Mit der Kanonisierung der biblischen Schriften, die spätestens im 1. Jh. n. Chr. ihren Abschluss fand, stellte sich (und stellt sich bis heute) die Frage nach einer zeitgemäßen Auslegung dieser Texte, insbesondere in Bezug auf das Gesetz. Nach jüdischer Auffassung enthalten die fünf Bücher der Tora insgesamt 613 Vorschriften (mitzwot, Singular mitzwa), die sich auf 248 Gebote und 365 Verbote verteilen. Diese Vorschriften der Tora sind in der Lebenswelt des antiken Israel verankert, die sich jedoch seit der Eroberung Jerusalems durch König Nebukadnezar II. von Babylon (587 v. Chr.) und noch einmal mit der endgültigen Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. gehörig verändert hat. Die Anpassung der Gesetzestradition, der sogenannten Halakha (wörtlich etwa „Lebenswandel“), an die Erfordernisse der Gegenwart sollte fortan das Kerngeschäft der jüdischen Gelehrten, der sogenannten Rabbinen, werden. Die erste Stufe der rabbinischen Auslegungsarbeit stellt die hebräisch verfasste Mischna dar, die zunächst mündlich entwickelt und um 200 n. Chr. schriftlich fixiert worden ist. In den folgenden Jahrhunderten fügten neue Generationen von Rabbinen der Mischna weitere Kommentare hinzu, die zeitgemäß in Aramäisch formuliert waren und mit dem aramäischen Wort Gemara (גמרא, etwa „Vollendung“) bezeichnet werden. Mischna und Gemara wiederum bilden die Kernbestandteile des Talmud, der in zwei Fassungen (in Palästina und in Babylonien) um 500 zum Abschluss gebracht worden ist.
Die Mischna
Das hebräische Wort Mischna (משנה „Wiederholung, Doppelung“) wird einerseits mit dem Begriff des Lernens, andererseits mit dem Charakter der Mischna als „zweite Tora“ erklärt. Die Mischna ist in sechs Ordnungen (hebräisch séder = סדר) gegliedert, die ihrerseits aus je sieben bis zwölf Traktaten (massékhet = מסכת) bestehen. Die Gesamtzahl der Traktate beläuft sich auf 63. Die Ordnungen der Mischna befassen sich mit folgenden Themen: 1. Zeraʿim „Samen“ (über Landwirtschaft und Abgaben), 2. Moʿed „Festzeiten“ (über den Schabbat und die anderen Feiertage), 3. Naschim „Frauen“ (über Eheschließung und -auflösung), 4. Neziqin „Schädigungen“ (Vergehen an Personen und Sachen, Eigentumsrecht, Gericht und Strafe), 5. Qodaschim „Heilige Dinge“ (Opfervorschriften und das Schlachten von Tieren) und 6. Ṭoharot „Reine Dinge“ (Reinheitsvorschriften). Obwohl die Mischna im Talmud enthalten ist, wurde sie immer auch separat gedruckt. 8 Rabb.II,1a–f ist Beispiel für eine Handausgabe zum Gebrauch im jüdischen Haushalt, während 2 Rabb.II,10a–f das wissenschaftliche Interesse an der rabbinischen Gesetzesauslegung unter christlichen Gelehrten demonstriert.
Der Protestant Willem Surenhuys (um 1666–1729), seit 1704 Professor für Orientalische Sprachen in Amsterdam, war einer der wenigen, die der jüdisch-hebräischen Tradition ganz ohne Kritik oder Polemik gegenübertraten. Schon früh reifte sein Plan, die von ihm hoch geschätzte Mischna, der er durchaus den Charakter göttlicher Offenbarung beimaß, durch Übersetzung einem breiten christlichen Leserkreis zu erschließen. In Amsterdam, zu jener Zeit ein Zentrum des europäischen Judentums, ließ er sich zu diesem Zweck von jüdischen Gelehrten in rabbinischer Literatur unterrichten.
3.4 3
Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung
Guilielmus Surenhusius (Willem Surenhuys), Mischna sive Totius Hebræorum Juris … Systema, Band 5: Ordnung Qodaschim; Amsterdam: Gerard & Jacob Borstius, 1702
2 Rabb.II,10e (Kat.-Nr. 3.4)
3.4 1
Die Gebetskapseln (tefillin, rechts) und die darin eingelegten Texte (links) mit zentralen Glaubensgrundsätzen des Judentums
G. Surenhusius, Mischna, Band 1: Ordnung Zeraʿim; Amsterdam: G. & J. Borstius, 1698; Tafel bei S. 9
2 Rabb.II,10a (Kat.-Nr. 3.4)
3.4 2
Das Ritual der Schmähung und des Schuhabstreifens (Chalitza) des Unwilligen (nach Deuteronomium 25:5–19) aus dem Traktat Soṭa „auf Abwegen“
G. Surenhusius, Mischna, Band 3: Ordnung Naschim; Amsterdam: G. & J. Borstius, 1700; S. 260–61
2 Rabb.II,10c (Kat.-Nr. 3.4)
3.3 (Kopie 1)
„gedruckt in der Königsstadt Berlin unter der Herrschaft unseres Herrn (…) Friedrich Wilhelm, Königs von Preußen und Herzogs von Brandenburg“
Mischnajot (משניות), Ordnung Moʿed; Berlin (ברלין): Wolf ben Zalman, 1716/17; Titelblatt
8 Rabb.II,1b (Kat.-Nr. 3.3)
3.3
Wie muss ein Beet angelegt sein, um die unzulässige Vermischung von zweierlei Samen zu verhindern (vgl. Leviticus 19:19)?
Mischnajot (משניות), Ordnung Zeraʿim; Berlin: Wolf ben Zalman, 1715/16; Fol. 92v–93r
8 Rabb.II,1a (Kat.-Nr. 3.3)
Der Talmud
Der Talmud (תלמוד, soviel wie „Lehre“) ist in zwei Fassungen überliefert, die sich inhaltlich deutlich voneinander unterscheiden: Der Babylonische Talmud, der spätestens um 800 in den jüdischen Gelehrtenzentren am Euphrat zum Abschluss gebracht worden ist, umfasst beinahe 3000 beidseitig bedruckte Blätter im Folio-Format. Die 1519–23 von Daniel Bomberg in Venedig gedruckte Ausgabe (2 Rabb.II,4a–h) diente allen nachfolgenden Editionen als Vorbild und gilt bis heute als Standardwerk. Die Drucke wurden in ganz Europa verkauft und überstanden somit auch eine 1553 durch die Inquisition in Italien veranlasste Kampagne zur Verbrennung jüdischer Schriften. Der sogenannte Jerusalemer oder palästinische Talmud, im 5. Jh. in Galiläa vollendet, ist von deutlich geringerem Umfang und wird seltener rezipiert (2 Rabb.II,2). Der Talmud hat die Gliederung der Mischna übernommen. Die aufgeschlagene Seite (2 Rabb.II,4h) verdeutlicht den charakteristischen Aufbau des Babylonischen Talmud: Im mittleren Bereich jeder Seite steht in größerer Schrift der eigentliche Text des Talmud, untergliedert in Mischna (hebräisch) und zugehörige Gemara (aramäisch). Der Text der Mischna wird stets mit dem Kürzel מתני׳ (für aramäisch Matnita = Mischna) eingeleitet, die anschließende Gemara mit גמ׳. Um den Haupttext herum sind am inneren Rand jeder Seite der Talmudkommentar von Salomo ben Isaak (RaSCHI, † 1105), am äußeren Rand Kommentare späterer Gelehrter, die sogenannten Tosafot („Hinzufügungen“), gruppiert. Die Kommentare sind durch die sogenannte „Raschi-Schrift“, die aus einer Halbkursive entwickelt wurde, vom Haupttext deutlich unterschieden.
3.1
Titelblatt des ersten Talmud-Traktats, der 1519 Bombergs venezianische Presse verließ
Massékhet Pesachim (פסחים) … ʿim Perusch RaSCHI, 1. Auflage; Venedig: Daniel Bomberg, 1519/20
2 Rabb.II,4c (Kat.-Nr. 3.1)
(Kopie 3)
3.1 (Kopie 1)
„Wer Geflügel zusammen mit Käse auf den Tisch stellt, übertritt kein Verbot“ (Fol. 113r unten)
Babylonischer Talmud, Traktat Chullin. (חולין)
2. Auflage Venedig: Daniel Bomberg, 1525/26; Ledereinband um 1700; aus der Bibliothek von J. A. Danz
2 Rabb.II,4h (Kat.-Nr. 3.1)
3.2
Mit dem (fehlerhaft) wiederholten Wort מאימתי „wann“ auf der linken Seite rechts unten setzt die Gemara zum voraufgehenden Mischnatext ein
Talmud Jeruschalmi, Traktat Berakhot „Segnungen“; Krakau: Gebrüder Prostitz, 1609; Fol. 1v–2r
2 Rabb.II,2 (Kat.-Nr. 3.2)
(Kopie 3)
Midraschim
Mit dem Begriff Midrasch(מדרש, „Studium“ oder „Lehre“) wird eine weitere Form der Schriftauslegung bezeichnet, die den biblischen Stoff aber nicht wie Mischna und Talmud systematisch, also nach thematischen Komplexen, sondern versweise entlang dem Bibeltext kommentiert. Nach ihrer rechtlichen Verbindlichkeit wird zwischen halakhischen und haggadischen Midraschim unterschieden, wobei eine scharfe Trennung nicht immer möglich ist. Im Unterschied zur Halakha, die das verbindliche religiöse Gesetz markiert, kommt der Haggada (הגדה, auch Aggada, etwa „Erzähltes“) eher moralisch-belehrender Charakter ohne rechtliche Bindung zu. Die Midraschim dienen nicht nur einer Erklärung des jeweiligen Textab-schnitts, sondern schreiben die biblischen Geschichten gewissermaßen ausmalend fort. Die ältesten Midraschim reichen bis in die Zeit der Mischna, also in die ersten beiden Jahrhunderte, zurück, doch ist der Entstehungsprozess der Sammlungen deutlich komplexer und weniger geschlossen als im Falle des Talmud.
3.5
Ende des Midraschs zu Exodus (mit Druckvermerk von Bombergs Mitarbeiter Cornelius Adelkind) und Beginn desjenigen zu Leviticus
Midrasch ha-Mekhilta (Kolophon, rechts) und Séfer Sifra (Titel, links); Venedig (ויניציאה): Daniel Bomberg, 1545
2 Rabb.II,24 (Kat.-Nr. 3.5)
3.6
Titelblatt des dritten Teils mit der Druckermarke M. A. Giustinianis, die den Tempel zu Jerusalem (Bet ha-Miqdasch = בית המקדש) zeigt.
Deraschot ha-Tora; Venedig: Daniel Bomberg & Marco Antonio Giustiniani, 1545; Titelseite
2 Rabb.II,26(3) (Kat.-Nr. 3.6)
Der Rabbiner(?) Isaak Faradschi ist nur durch seine umfangreiche Büchersammlung bekannt, die er 1647 aus unbekanntem Grund verkaufte
Séfer Rabbot u.a. Midraschim; Venedig: D. Bomberg & M. A. Giustiniani, 1545; aus der Bibliothek von I. Faradschi
2 Rabb.II,26 (Kat.-Nr. 3.6)
Die Halakha nach dem Talmud
Die schriftliche Fixierung des jüdischen Rechts im Talmud bedeutete keineswegs das Ende seiner Auslegung. Der unvollendet gebliebene große Talmudkommentar RaSCHIs wurde von seinen Schülern und Enkeln fortgesetzt. Die Verfasser dieser „Ergänzungen“ (Tosafot) begnügten sich jedoch nicht mit der Glossierung einzelner Stellen des Talmud, sondern traten auch mit eigenständigen Werkenhervor. Einige davon erlangten große Popularität, da sie – unter Auslassung der ausschweifenden rabbinischen Diskussion – die praktische Anwendung der Gesetze im Alltag zu erleichtern vermochten.
Einer dieser Tosafisten, Mose ben Jakob aus dem nordfranzösischen Coucy, schrieb in der ersten Hälfte des 13. Jh. eine Erklärung der 613 Gebote (mitzwot) der Tora, die unter dem Namen „Großes Buch der Gebote“ (Séfer Mitzwot Gadol, nach den Initialen seines Titels auch SeMaG = סמ״ג) bekannt geworden ist. Aus diesem erstellte einige Jahrzehnte später sein Landsmann Isaak ben Josef aus Corbeil eine Zusammenfassung, die zur Unterscheidung die Bezeichnung „Kleines Buch der Gebote“ (Séfer Mitzwot Qaṭan, abgekürzt SeMaQ = סמ״ק) erhielt (Ms.Rec. adj. f. 9). Das Werk wird auch unter dem Titel ʿAmmude Gola, „Die Säulen des Exils“, geführt, da es sich auf die für das Leben in der Diaspora relevanten Gebote konzentriert und etwa Reinheitsvorschriften für den Tempelkult übergeht. Seine Praxisnähe hat zu einer weiten Verbreitung des Buches geführt, von dem mehr als 200 Handschriften bekannt sind und das bereits um 1509/10 in Konstantinopel im Druck erschien. Gemäß der Einteilung der mitzwot in Gebote und Verbote sind die Vorschriften an der hebräischen Einleitung gut zu unterscheiden: In ersterem Fall wird das herausgehobene Anfangswort eines Paragraphen mit der Präposition ל eingeleitet („zu tun“), in letzterem hingegen mit der Negation שלא („dass man nicht ...“).
3.7
Ein halakhisches Werk aus dem 13. Jh. für das Leben in der Diaspora
Isaak ben Josef von Corbeil: Séfer Mitzwot Qaṭan (SeMaQ) oder ʿAmmude Gola; Handschrift von Schemarja ben Meʾir, etwa 14. Jh.; Fol. 130r mit Zeichnung
Ms. Rec. adj. f. 9 (Kat.-Nr. 3.7)
„Ausrottung (לאבד) der Götzenbilder: zerbrechen, entfernen, verbrennen, zerstören …“
Isaak ben Josef von Corbeil: Séfer Mitzwot Qaṭan (SeMaQ) oder ʿAmmude Gola; Handschrift auf Pergament, 130 Blatt; Nordfrankreich(?), etwa 14. Jh.; Fol. 15v–16r
Ms. Rec. adj. f. 9 (Kat.-Nr. 3.7)
Der „gedeckte“ Tisch
Der wohl einflussreichste Kodex des jüdischen Rechts stammt von Jakob ben Ascher, der in der ersten Hälfte des 14. Jh. in Toledo wirkte. Sein ʾArbaʿa Ṭurim, „Vier Reihen“, genanntes Werk behandelt in vier Abteilungen die rechtlichen Vorschriften für Alltag und Feiertag, das alltägliche Leben, Eherecht und Zivilrecht. Populär wurde dieses Kompendium aber erst durch den dazu verfassten Kommentar von Josef ben Efraim Karo (1488–1575), dessen Kurzfassung mit dem Namen Schulchan ʿArukh („Gedeckter Tisch“) zum meistrezipierten jüdischen Gesetzbuch werden sollte (8 Rabb.II,28a–d). Ebenfalls aus Toledo stammend, war Karo noch im Kindesalter aus seiner Heimat vertrieben worden und hatte Aufnahme im Osmanischen Reich gefunden, wo er sich schließlich in Safed (Tzefat) in Galiläa niederließ. Eine handliche Überarbeitung von Karos Werk bietet der Schulchan Ṭahor („Reiner Tisch“) von Josef Pardo (†1677), Vorbeter der spanischen Gemeinde in London (12 Rabb.II,12).
3.8
Von dieser handlichen vierbändigen Ausgabe wurden 3.000 Exemplare gedruckt.
Josef Karo: Schulchan ʿArukh (שלחן ערוך), 4 Bände, Amsterdam (אמשטירדם): Josef Athias, 1662–1664
8 Rabb.II,28a–d (Kat.-Nr. 3.8)
zu Eheschließung, Scheidung und dergleichen mehr
Josef Karo: Schulchan ʿArukh, Bd. 3; Amsterdam: J. Athias, 1662; Titelseite mit Chronogramm: נותן לפניכם ברכה „(ich) lege euch einen Segen vor“ (vgl. Deuteronomium 11:26) – die Großbuchstaben ergeben die Jahreszahl (5)422 jüd. Zählung
8 Rabb.II,28c (Kat.-Nr. 3.8)
3.9
„Was ist neu an diesem Bändchen? Dass man es am Busen tragen kann“
Josef Pardo: Schulchan Ṭahor (שלחן טהור); Amsterdam: Uri Phoebus, 1686; Titelseite
12 Rabb.II,12 (Kat.-Nr. 3.9)